Ulrich Zeh: Low Code demokratisiert die Anwendungsentwicklung

Ulrich Zeh ist Sales Executive im Bereich Großkunden bei Mendix. Das ursprünglich niederländische Unternehmen ist weltweit führender Anbieter für Low-Code-Softwareplattformen und wurde 2018 von Siemens übernommen. Nicht zuletzt deshalb werden beide Player bei Marktbewertungen, etwa von ABI Research (2021) zu PLM-Software bzw. im Gartner 2020 Magic Quadrant als Leader genannt. Grund genug für Detecon, sich nach möglichen Potentialen und aktuellen Herausforderungen in den Bereichen Anwendungsentwicklung, Produktdesign und Fertigungsplanung zu erkundigen.

Detecon: In einer idealen Welt sollte Transparenz für alle Beteiligte hinsichtlich der Daten entlang des gesamten Produktlebenszyklus bestehen. Vor welchen Herausforderungen stehen Produktentwickler und Fertigungsplaner, aber auch Verantwortliche im Betrieb aktuell? Welche Potenziale bietet Low Code?

Ulrich Zeh: Industrieübergreifend existiert enormer Bedarf bei der Digitalisierung von Prozessen, die überraschenderweise an vielen Stellen immer noch manuell ablaufen. Sei es über Medienbrüche wie Papier, Mail oder Telefon oder bewusste Entscheidungen, die an bestimmten Menschen hängen. Die Abteilungen wollen und müssen die Effizienz hier steigern, aber die Unternehmens-IT verfügt oft nicht über genügend Kapazitäten, um entsprechende Vorhaben umzusetzen. Gemeinhin ist eine IT-Abteilung zu 80 Prozent mit der Wartung von Bestandssystemen ausgelastet. Als Folge entstehen klassische Schattenlösungen, die nicht unter der Governance der IT stehen und Sicherheitsrisiken darstellen. Zudem hängen solche gewachsenen Lösungen oft an Fähigkeiten einiger, weniger Personen. Mit Low Code lässt sich dagegen die Geschwindigkeit in der Anwendungsentwicklung deutlich steigern, gleichzeitig sind weniger Ressourcen nötig, da Fach- und IT-Bereich gemeinsam in agilen Teams agieren können. Unternehmensstandards werden beachtet und die Time-to-Market dennoch verkürzt.

Welche Sicht hat Siemens/Mendix hierauf? Wie ergänzt Mendix das Siemens PLM Portfolio, insbesondere hinsichtlich MindSphere?

Mendix ist Pionier der Low-Code-Branche und wurde schon 2005 gegründet. Auch wenn Low Code derzeit wie ein Hype scheint, ist das Thema nicht wirklich neu. Der Ansatz von Mendix war von Anfang an, die Anwendungsentwicklung zu demokratisieren, also Menschen, die keine Programmiersprachen beherrschen, dennoch Zugang zum Aufbau von Anwendungen zu verschaffen. Neben erweiterten Kapazitäten ermöglicht dies auch agiles Arbeiten in kürzeren Zyklen.

Aus Sicht von Siemens ist die Integration von Mendix sinnvoll, um seinerseits neue, hochmoderne Software-Lösungen bereitstellen zu können. Das Portfolio ergänzt sich sehr gut, weil Siemens Mindsphere die Menge an Daten, die etwa über IoT entstehen, sammelt und konsistent aufbereitet, während Mendix dann die Daten als werthaltige Informationen für einen Prozess, sei es maschinell oder in geeigneter Sicht eines Nutzers, zur Verfügung stellen kann.

Was sind die Hauptanwendungsbereiche von Mendix und welche Zukunftspotenziale sehen Sie?

Mendix lässt sich absolut industrieübergreifend nutzen, denn überall, wo Produkte entwickelt und hergestellt werden, also in der Industrie, aber auch in der Logistik- oder Finanzbranche, auch im öffentlichen Bereich, treten sehr ähnliche Herausforderungen auf. Also überall, wo Digitalisierungsvorhaben und neue Geschäftsmodelle wünschenswert sind, aber durch wenig Kapazität und komplexe Systemzugriffe gebremst werden.

Ein klassisches Beispiel der Fertigungsindustrie ist Preventive Maintenance, wo anhand analysierter Echtzeit-Daten von Maschinenzuständen womöglich ein ungeplanter Wartungsservice abzubilden ist, der sich dann in einen Gesamtprozess mitsamt Materialauswahl, Wartungsschritten und Ersatzteilbestellung eingliedern muss.

Ein weiterer Anwendungsbereich ist die Erweiterung bewährter Kernsysteme wie etwa SAP, wo man einerseits nah am bisherigen Standard bleiben, aber dennoch gerne neue Funktionalitäten oben aufsetzen möchte. Ebenso kann Mendix bei der Ablösung von Legacy- oder gar Schatten-IT zum Einsatz kommen, wo historisch sehr viel Prozesswissen einzelner Personen eingeflossen ist, deren Plattformen aber am Ende des Lebenszyklus sind.

Ähnlich ist die Motivation auch bei der Migration von Anwendungen in die Cloud, die aber eigentlich gar nicht Cloud-fähig sind. Da Mendix generell auf der Architektur von Containern und Microservices basiert, lassen sich Prozesslogik und Workflow solcher Anwendungen auf dieser Basis dann neu und zukunftssicher aufsetzen. Und zu guter Letzt sind auch Multi-Experience-Anwendungen ein Einsatzgebiet für Mendix, wenn neue Anwendungen auch für Sprachsteuerung und andere innovative Kommunikationsmodi zugänglich sein sollen.

Welche Voraussetzungen müssen erfüllt werden, um Mendix zu nutzen bzw. wie lange dauert es, die Programmierung zu erlernen?

Spannende Frage, hier gibt es keine eindeutige Antwort. Der Entwickler, wir nennen ihn Developer, muss ja keine Programmiersprache beherrschen. Er sollte vor allem seinen Prozess kennen und eine gute Ahnung davon haben, wie seine gewünschte Anwendung logisch aufgebaut sein soll. Mendix verfügt über zwei unterschiedliche Entwicklungsumgebungen: Einerseits das Mendix Studio für den „Citizen Developer“, der rein grafisch mit möglichst vielen wiederverwendbaren Bausteinen, vorgebauten Integrationen und Starter Apps arbeiten kann. Andererseits das Studio Pro für den professionellen Entwickler, der den vollen Funktionsumfang nutzen und auch High Code einbinden möchte. Das Schöne: Beide Personenkreise können kollaborativ am gleichen Objekt arbeiten, um schneller ans Ziel zu kommen.

Grundsätzlich kann man schon nach wenigen Tagen einer Schulung oder durch eigenes Ausprobieren erste, gute Ergebnisse erzielen. Um nun aber beispielsweise Integrationen in andere Systeme, Mobile-Native-Anwendungen oder Progressive Web Apps zu bauen, braucht man etwas mehr Anlauf, um das volle Potenzial nutzen zu können.

Wie lange dauern typische Umsetzungsprojekte, z. B. eine Dashboard-Entwicklung?

Wir betonen, dass eine reine Anwendungsentwicklung um einen Faktor 5 bis 10 schneller wird. Ich konnte das selbst anfangs kaum glauben, doch die Kunden bestätigen uns solche Faktoren. Hinsichtlich Time-to-market gilt es aber zu beachten, dass die Zeitspanne bis zur Einführung eines digitalen Produktes nicht nur aus der reinen Entwicklung besteht, sondern auch aus diversen anderen Prozessen. Die Zürich-Versicherung hat innerhalb von 7 Tagen eine Multi-Channel-Anwendung erstellt, welche die Gesichtserkennungstechnologie von Microsoft Azure verwendet, um das biologische Alter von Personen zu schätzen. 63.000 Selfies pro Jahr werden in Lebensversicherungsangebote umgewandelt. Anderes Beispiel: Die Business Development Bank of Canada konnte die Modernisierung ihres Kreditvergabeprozesses deutlich beschleunigen: Die Zeit für die Anwendungsentwicklung wurde von erwarteten 30 Monaten auf nur acht Monate verkürzt.

Welche Limitationen gibt es gegenüber Softwareprojekten mir rein objektorientierten Programmiersprachen?

Klar ist: Wir stellen kein High Code und seine Entwicklungskapazitäten infrage. Das wird auf absehbare Zukunft sehr wichtig bleiben. Es wird weiterhin Vorhaben geben, wo ich bewusst eine komplette Individualität – etwa durch Java oder .NET behalten oder realisieren möchte. Und sicherlich gibt es auch auf einer Low-Code-Plattform gewisse Grenzen, etwa in einer völlig individuellen Darstellung auf der Oberfläche, wo wir gewisse grafische Standards nutzen. Jedoch sind unsere Nutzer auch jederzeit in der Lage, für bestimmte Zwecke auch traditionelle High-Code-Elemente einzufügen.

Vielen Dank für das Interview!