Co-Innovation und Co-Opetition: Neue Wege für den Maschinenbau

Es ist kein einfaches Jahr für den Maschinenbau. Die Coronakrise ließ die Nachfrage einbrechen und die kalte Jahreszeit lässt weiter Ungutes befürchten. Laut VDMA sammelte sich in Deutschland bis September ein Minus von 15 Prozent in den Auftragsbüchern des Maschinen- und Anlagenbaus an. Der VDMA rechnet 2020 mit einem Rückgang von insgesamt 38.000 Stellen im Vergleich zum Vorjahr. Im Nachbarland Schweiz sind die Auftragseingänge in der MEM-Industrie seit Mitte 2018 sogar während neun aufeinanderfolgenden Quartalen zurückgegangen. Die Abschottung internationaler Handelsmärkte und der Umbruch in der Autoindustrie sind neben Corona nur einige der Gründe, warum die Branche vor großen strukturellen Herausforderungen steht. Was ist nun zu tun?

Was steckt also hinter den massiven Einbrüchen in dieser Branche? Was kann man tun, um den Abwärtstrend zu stoppen und wieder steigende Erträge zu erreichen?

Es hilft ein Blick auf die Kunden von Maschinenbauern. Denn auch deren Geschäftsumfeld hat sich massiv verändert. Sie müssen heute komplexe Fragestellungen zu lösen, die sie allein – wenn überhaupt - nur mit viel Aufwand meistern können. Der Veränderungsdruck ist einfach zu groß. Langjährige Partnerschaften sind kein Garant mehr für zukünftige Geschäftsbeziehungen, wenn dort keine Innovation stattfindet und damit Probleme gelöst werden können. Wer überleben will, muss seine Geschäftsstrategie auf das Geschäftsumfeld seiner Kunden ausrichten und auf die Balance zwischen Wettbewerb und Zusammenarbeit achten. Das Umfeld weitet sich also.

Vom vertikalen Industrie-Silo zum Business Ecosystem

James F. Moore beschrieb schon 1993 in seinem Artikel „Predators und Prey: A New Ecology of Competition“, also „Raubtiere und Beute: Eine neue Ökologie des Wettbewerbs“, dass Unternehmen sich nicht länger als Teil einer einzigen vertikalen Industrie verstehen sollten. Unternehmen bewegen sich in unterschiedlichen Ökosystemen und entscheiden, mit wem sie neue Fähigkeiten entwickeln möchten, bzw. mit wem sie im Spannungsfeld von Kollaboration und Wettbewerb neue Produkte und Dienstleistungen entwickeln wollen, um damit die Kunden zufriedenzustellen oder vielleicht sogar eine neue Runde der Innovation einzuläuten.

Die komplexen Aufgaben, an denen die Kunden der Maschinenbauer arbeiten, lassen sich in der Regel nicht mit Kompetenz aus einer Branche lösen. Es kommt auf das Zusammenwirken aller Lösungsbausteine an. Dieses Zusammenspiel sollte aber nicht nur technisch möglich sein, in dem es etwa durchgängige Abläufe unterstützt. Planer müssen darüber hinaus mit ganzheitlichem Wissen geschäftliche Anforderungen in ein schlankes Portfolio von Maßnahmen überführen und passende Lösungen und Dienstleister auswählen können.

Wie eine Studie des VDMA zeigt, sind Maschinenbauer nur ungern First Mover. Sie entwickeln also nur ungern eine solche ganzheitliche Lösung als erster, um sie im Bedarfsfall anbieten zu können. Was das für einen Kunden bedeuten kann, soll im Folgenden ein Beispiel aus der Beratungspraxis aufzeigen:

Projektbeispiel: Digitale Transformation „Inselfertigung“

Unser Kunde ist ein global agierendes Unternehmen. Für ein neues Produkt, welches zukünftig eines der zentralen Produkte dieser Firma sein soll, sollte eine seiner Produktionsstätten nach Industrie-4.0-Aspekten flexibilisiert und damit Losgröße 1 sehr einfach und effizient realisierbar werden. Man wollte für einen entscheidenden Teil der Wertschöpfung von der bisherigen Linien-Fertigung auf eine Inselfertigung umstellen.

Wie üblich wurden die Verarbeitungsschritte und Anlagenplanung auf mehrere Planer aufgeteilt. Dies sowohl für die Anlagenteile der klassischen Linienfertigung, wie auch für die neuen Bereiche mit neuen Arbeitsinseln, neuem Logistikkonzept und neuen fahrerlosen Transportsystemen. Es war klar, dass auch eine neue Software zur Planung und Steuerung der Produktion gebraucht wurde, also wurde hier auch ein passender Anbieter ausgewählt.  Ein Integrator sollte dann wie bisher gewohnt die Anlagenteile integrieren.

Leider musste man feststellen, dass die Komplexität des Vorhabens wesentlich über der bisheriger Planungen lag. Beginnend von der Planung, zur Beschaffung der Komponenten bis zur Systemintegration wären neue Vorgehen und Kriterien sowie mehr und neues Wissen notwendig gewesen. Als man beim Anlauf feststellte, dass die Planzahlen auf Grund permanenter Störungen nicht erreicht werden können, entschied man sich dann für die Umstellung zurück auf eine klassische Linienproduktion. Das Halten des Termins zur Markteinführung hatte Vorrang.

An diesem Beispiel wird klar, dass bei einem solchen Misserfolg alle Schaden nehmen. Sowohl der Kunde, der mit neuem Konzept und Maschinen erfolgreicher werden wollte, aber nicht genügend aktuelles Wissen aufwies. Als auch die Lieferenten und Systemintegratoren, die es schafften, mit ihren Lösungskomponenten zusammen zu arbeiten.

Ökosystem-Plattformen

Nur, wie findet man die richtigen Szenarien, für die man sich entsprechend aufstellt und die von Zielkunden im ausgewählten Ökosystem auch nachgefragt werden? Plattformen sind eng verbunden mit Ökosystemen, wenn man sie als Ort begreift, an dem alle Teilnehmer eines Ökosystems zusammenkommen. Sind das nicht gerade die Verbände? In der Regel nicht, da man sich dort in der Regel nur innerhalb eines vertikalen Sektors austauscht. Disruptionen wirken sich in der Regel jedoch branchenübergreifend aus.

Die letzte Störung, die die massiven Störungen in unserem Manufacturing-Ökosytem auslöste, war der Beginn der Digitalisierung. Den Endkunden, also den Anwendern der Maschinen, ergeben sich plötzlich ungeahnte Möglichkeiten, wie sie Produkte gemeinsam und mit viel Feedback von Kunden entwickeln, ihre Produktion flexibler gestalten und auch im After-Sales mit digitalen Services neuen Mehrwert erschließen.

Hinderlich ist oft, dass die Daten, auf deren Basis man neues Geschäft entwickeln kann, nicht zur Verfügung stehen, oder nur umständlich aus dem Maschinenpark der Produktion im Dschungel aus Datenformaten und Herstellerinformationen sowie eigenen IoT-Hilfsmaßnahmen beschaffen kann.

Einige Maschinenbau-Unternehmen haben sich bereits diesem Thema angenommen, und versucht, mit digitalen Produkterweiterung und Services ihr Geschäft zu erweitern. Der Erfolg ist in vielen Fällen da, aber nicht durchschlagend. Man hat sich dabei stark auf die Technologie, und weniger auf den Gesamtnutzen für den Kunden konzentriert.

Digitale Ökosysteme

Und genau da kommen die neuen Teilnehmer im Ökosystem „Manufacturing“ ins Spiel – die Tech-Riesen aus USA und andere Software-Experten aus aller Welt.

Microsoft und AWS haben es beispielsweise mit erheblichen Anstrengungen geschafft, zusammen mit großen Kunden die tonangebenden Plattformen des Automotive-Ecosystems zu etablieren und wachsen kontinuierlich. Nach eigenen Aussagen sind sie mit den gemeinschaftlich entwickelten Lösungen unabhängig von technischen Plattformen. Gemeinsam erschaffen die Teilnehmer viele Innovationen für das Ecosystem von morgen. Wichtige Beispiele für solche Plattformen sind etwa die Open Manufacturing Plattform, auf der u.a. Anheuser-Busch, BMW Group, Bosch, Microsoft und ZF Friedrichshafen AG an gemeinsam skalierbaren Innovationen für die Fertigungsindustrie arbeiten. Ein anderes Beispiel ist die Industrial Cloud von Volkswagen und Amazon Web Services mit Siemens als Integrator.

Was bedeutet das für ein Maschinenbau-Unternehmen in der aktuellen Situation? Sollte es einer oder mehrere Plattformen beitreten? Eine eigene Plattform gründen? Gibt es vielleicht schon entsprechende Erfahrungen – gute oder schlechte? Genau diese Fragen hat sich in Deutschland der Verband der Maschinenbauer, VDMA, auch gestellt und eine entsprechende Studie durchgeführt, veröffentlicht im September 2020.­ 

Die Studie „Kundenzentrierung als Chance für den digitalen Durchbruch“ untersucht drei Kernfragestellungen, um spezifische Handlungsempfehlungen abzuleiten:

  • Wo stehen die Maschinen- und Anlagenbauer in puncto digitale Plattformen und Mehrwertdienste heute? Welche Strategien gelten als erfolgversprechend und was fehlt den Maschinen- und Anlagenbauern noch für den „digitalen Durchbruch“?
  • Welche Anforderungen stellen die Kunden der Maschinen- und Anlagenbauer an die Funktionalitäten digitaler Plattformen und den Nutzen von Mehrwertdiensten? Und welcher Marktteilnehmer kann diese Kundenanforderungen am besten erfüllen?
  • Welche Rollen können Maschinen- und Anlagenbauer in den verschiedenen Endkundenindustrien überzeugend und erfolgreich spielen und wie sollten sie strategisch über die Entwicklung digitaler Plattformen und Mehrwertdienste nachdenken und diese vorantreiben? 

Folgende Aussagen der Studie sind besonders bemerkenswert:

1. Maschinen- und Anlagenbauer setzen primär auf eine Fast-Follower-Strategie

Wie die Studie zeigt, verfolgen lediglich 20% der befragten Unternehmen eine First Mover Strategie. Das heißt, die anderen warten und lernen aus den Erfolgen/Fehler der anderen. Das kann aufgehen, ist aber riskant. In der Studie wird ebenfalls ausgeführt, dass, eben weil es in Europa kaum First Mover gibt, dieses Vakuum durch außereuropäische Firmen oder Startups besetzt wird.

Unsere Empfehlung: Es gilt, sich zeitnah im Rahmen der Digitalstrategie zu überlegen, welches die relevanten Ökosysteme sind! Wie will man sich engagieren und einbringen? „The Winner takes it all“, so wird eine Beobachtung in der Plattform-Ökonomie beschrieben. Hiermit ist gemeint, dass oft eine der ersten Plattformen den Erfolg einfährt und das Ökosystem besetzt. Folglich später auf eine Follower-Plattform zu setzen, ist ebenfalls sehr riskant.

2. Kooperationen als Schlüsselfaktor für erfolgreiche Digitalisierung im Maschinen- und Anlagenbau

Die Kooperation mit Anbieter ergänzender Angebote wird als die vielversprechendste Strategie angesehen, an einen eigenen Ansatz glauben immerhin noch 27 Prozent der Befragten. Dem entgegen steht allerdings der weltweit in der Branche identifizierte Mangel an erforderlichen, neuen Skills. Diese Lücke ist im Moment nicht zu schließen. Denn der Krieg um Köpfe ist hart, und wird nicht nur über Gehalt, sondern auch Standorte (Silicon Valley), Image (Cool und Innovativ) oder Karriereaussichten entschieden. Dort, wo man selbst schnell viel lernt und den eigenen Marktwert erhöht, liegt die Präferenz vieler Absolventen und Professionals.

Die Herausforderung bei den Skills ist so brisant, dass das World Manufacturing Forum den Jahresbericht 2019 komplett diesem Thema gewidmet hat. Neben der Lage und den Auswertungen zu konkreten Veränderungen und volkswirtschaftlichen Folgen, werden auch konkrete Hinweise auf Skills und Rollen für die Zukunft gegeben. Generell ist das Skill Gap ein wichtiger Treiber und großer Vorteil für die Zusammenarbeit auf einer Ökosystem-Plattform. Wenn sich dort jeder auf das konzentriert, was er besonders gut kann, resultieren hieraus aller Voraussicht nach gemeinsam erbrachte Spitzenleistungen und somit auch zufriedene Kunden.

Wie kann Co-Opetition gelingen?

Auffällig bei den Ergebnissen der VDMA-Umfrage ist die Skepsis gegenüber der Zusammenarbeit mit Wettbewerbern. Lediglich 23% sehen hier erfolgreiche Aussichten. Der Landmaschinenhersteller Claas ist im Rahmen seines 365Farmnet-Ansatzes jedoch genau den Weg gegangen, auch Produkte konkurrierender Hersteller auf die gemeinsame, digitale Plattform DataConnect zum Austausch von Maschinendaten zu holen. Entscheidend hier die Erkenntnis: In der Realität nutzen Landwirte in ihrem Maschinenpark eben fast immer Produkte unterschiedlicher Hersteller. Um ihnen in Echtzeit einen vollständigen Überblick über Position, Tankfüllstand, Maschinenzustand u.v.m. aller ihrer Produktionsmittel zu verschaffen, hat man sich mit Wettbewerbern abgestimmt. Die Daten der Fahrzeuge aller teilnehmenden Partner sind in allen Portalen gesamthaft einsehbar.

Ein schönes Beispiel, wie Co-Opetition – also die gleichzeitige Existenz von Zusammenarbeit und Wettbewerb einen neuen Mehrwert für den Kunden schaffen.

Wir danken Uwe Weber für die Arbeit an diesem Artikel.