Supply Chain Management: Konsequenzen aus der Covid-19-Krise

Die Covid-19-Pandemie hat weite Teile der Wirtschaft schwer getroffen: In vielen Branchen ist die Nachfrage eingebrochen und Lockdown-Maßnahmen haben vor allem zu Beginn der Pandemie viele Lieferketten in massivem Umfang beeinträchtigt. Kurzfristig erforderte dies Aktivitäten zur Gewinnung von Transparenz und Absicherung von Produktion und Materialversorgung durch die Lieferanten. Mittelfristig müssen wirksame Maßnahmen zur Absicherung der wichtigen Lieferketten gegen künftige Störungen wie Handelskriege, Brexit oder Klimawandel ergriffen werden, da deren Eintritts­wahrscheinlichkeit deutlich gestiegen ist. Technologien aus der Digitalisierung können dabei eine wertvolle Unterstützung leisten.

Covid-19 hat die Ökonomien weltweit in einem Maße getroffen, wie es wohl kaum jemand vorher für möglich gehalten hätte. Per Lockdown wurde das öffentliche ebenso wie das wirtschaftliche Alltagsleben stark heruntergefahren. Abstandsregeln und die Verlagerung der Arbeit ins Homeoffice dort, wo es möglich ist, schränkten das Alltagsleben ein. Immer neue Wellen verursachten die Rücknahme von Lockerungen und erzwingen die Anpassung von immer neuen Regelungen (z.B. Click&Meet im Einzelhandel).

Die damit verbundenen Unsicherheiten für die Arbeitnehmer führten zu privater Kaufzurückhaltung insbesondere bei hochpreisigeren Anschaffungen und damit zu einer erheblichen Nachfrageschwächung. Auch auf der Lieferseite kam es zu Lieferverzögerungen und in der Folge zu Produktionsausfällen, wenngleich die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und alltäglichen Konsumgütern in den Industriestaaten nahezu uneingeschränkt aufrechterhalten werden konnte. Covid-19 hat somit Nachfrage und Lieferketten gleichermaßen in drastischem Umfang beeinträchtigt.

Im Zuge des Rückgangs der Covid-19-Infektionen sind stufenweise Lockerungen in Kraft getreten. Regierungen haben Konjunkturpakete zur Stimulierung von Binnennachfrage und Absicherung von Arbeitsplätzen aufgesetzt. Was bedeutet dies nun für Unternehmen? Wie gut hat das Risikomanagement zur Absicherung der eigenen Lieferketten funktioniert? Wie sollen sie sich auf die Zeit nach der Pandemie vorbereiten? Welche „Lessons learned“ gibt es aus der Krise und was bedeutet dies für die Zukunft?

Stabile Lieferketten sichern Überlebensfähigkeit von Unternehmen

Ob das Risikomanagement des Unternehmens die Gefahren einer Pandemie im Allgemeinen und konkret im Falle von Covid-19 hätte vorhersehen können, sei dahingestellt. Der SARS-Ausbruch in Asien 2002/2003 hatte die prinzipielle Gefahr einer plötzlich auftretenden Epidemie aufgezeigt und wurde von der WHO als weltweite Bedrohung eingestuft. Da die Folgen des damaligen Ausbruchs im Vergleich zu Covid-19 jedoch verhältnismäßig gering und zudem geografisch begrenzt waren, hat dies in den wenigsten Unternehmen zur Umsetzung entsprechender Präventivmaßnahmen geführt.

Die Frage, ob das Risiko für weltweite Pandemien künftig steigt, muss von Experten beantwortet werden, wenn zu einem späteren Zeitpunkt Herkunft und Folgen des SARS-CoV-2-Virus ausreichend tief analysiert und verstanden sind. Die Notwendigkeit für Unternehmen, ihre Liefernetzwerke künftig stabiler und widerstandsfähiger gegen externe Einflüsse aufzustellen, ist jedoch schon jetzt erkennbar. Denn Häufigkeit und Geschwindigkeit, mit der Ereignisse wie Naturkatastrophen, gesellschaftliche Unruhen, Handelskriege und Protektionismus mit potenziell großem negativem Einfluss für Unternehmen auftreten können, nehmen unbestreitbar zu.

Dem gegenüber stehen immer ausgefeiltere Logistikketten mit kollaborativen Planungsprozessen (S&OP), reduzierten Lagerbeständen, Just-in-Time/Just-in-Sequence-Belieferung und der konsequenten Ausnutzung komparativer Kostenvorteile durch Produktionsverlagerungen in Niedriglohnländer. Alles Maßnahmen, die eher geeignet sind, ein Liefernetzwerk verwundbarer denn robuster zu gestalten. Das hat Covid-19 an vielen Stellen drastisch vor Augen geführt.

Dennoch gelingt es manchen Unternehmen, auch solch komplexe Lieferketten während der Corona-Krise aufrecht zu halten. Warum ist das so? Welche Maßnahmen sind geeignet, Liefernetzwerke robuster und flexibler zu gestalten?

Nachfrageplanung ist essentiell für die Steuerung der gesamten Lieferkette

Eine realistische und zeitnahe Einschätzung der zu erwartenden Kundennachfrage ist essentiell für die Steuerung der gesamten Lieferkette sowohl im eigenen Unternehmen als auch im Lieferantennetzwerk. Die von Planungssystemen genutzten Prognoseverfahren zur Ermittlung des Kundenbedarfs sind mit der Beurteilung der Effekte einer sich drastisch und schnell verändernden Marktnachfrage, wie sie von Corona in einigen Branchen ausgelöst wurde, überfordert. Auch Verschiebungen in der Marktnachfrage aufgrund eines sich rasch verändernden Kundennachfrageverhaltens können kaum prognostiziert werden. Da ein exaktes Bild über die zu erwartende Marktentwicklung und die daraus abgeleiteten kurz- bis mittelfristigen Kundenbedarfe aber von Bedeutung ist, müssen hier neue Wege und Herangehensweisen gefunden werden.

Kurzfristig ist in erster Linie die Expertise der Vertriebsmitarbeiter gefordert, um die Ergebnisse aus den Planungssystemen zu plausibilisieren und die Planungsparameter unter Berücksichtigung krisenbedingter und in dieser Form nicht vorhersehbarer Sondereffekte wie Nachfrageeinbrüche, Verschiebungen in der Nachfragestruktur oder „Hamsterkäufen“ anzupassen. Dabei kann die Kommunikation über Marktkanäle, der direkte Kontakt mit den Kunden sowie der Rückgriff auf Marktanalysen externer Wirtschaftsdienste wertvolle Anhaltspunkte liefern, um beispielsweise den Zeitpunkt einer wiederanziehenden Kundennachfrage richtig einzuschätzen. Dies erfordert auch ein fortlaufendes Monitoring der wirtschaftlichen Entwicklung in den von der Krise betroffenen Absatzmärkten. Zulieferer sind in besonderem Maße auf die Forecasts und Prognosen ihrer direkten Kunden angewiesen, da ihnen der unmittelbare Kontakt zum Kunden des Endproduktes im B2B-Geschäft fehlt.

Folglich kommt dem kontinuierlichen Informationsaustausch zur Steigerung der Transparenz zwischen allen Unternehmen entlang der Supply Chain eine hohe Bedeutung zu. Mit Hilfe der Digitalisierung gelingt es Lieferanten auf den nachgelagerten Ebenen zunehmend, selbst „digitale Touchpoints“ mit Endkunden aufzubauen und diese für die Abschätzung der Nachfrageentwicklung zu nutzen.

Mittel- bis langfristig ist zu prüfen, wie aus dem Krisenverlauf Frühwarnindikatoren abgeleitet werden können, um auf ähnliche Ereignisse künftig besser vorbereitet zu sein. Diese Frühwarnindikatoren müssen in das Risikomanagement der Supply Chain aufgenommen und dort kontinuierlich überwacht werden. Um deren Verläufe jedoch richtig interpretieren zu können und Schwellwerte für Warnungen passend zu definieren, muss der Verlauf der Corona-Pandemie im eigenen Unternehmen inklusive der dabei gemachten Erfahrungen, der gesammelten Daten sowie der sich als wirksam erwiesenen Maßnahmen festgehalten werden.

Hierfür können Szenario-Techniken hilfreich sein, um den Pandemie-Verlauf im eigenen Unternehmen modelltypisch abzubilden und auf dieser Basis die Entwicklung der Frühindikatoren sowie die daraus resultierenden Kundennachfrageeffekte nachvollziehbar zu machen. Hierbei unterstützen moderne Risikomanagement-Softwarelösungen. Sie erleichtern die Erkennung von Abhängigkeiten und die Ableitung von Ursache-Wirkungsketten unter anderem auch durch Nutzung künstlicher Intelligenz bei der Auswertung des Datenmaterials, beispielsweise durch Verfahren zur Mustererkennung.

Die Aufarbeitung der Wahrnehmung der Krise und die Erkennung der für das Unternehmen relevanten Indikatoren für eine „What if“-Betrachtung muss mit den geeigneten Gegenmaßnahmen verknüpft werden, um zu einem Masterplan zu gelangen. Erst die Verknüpfung hilft, gefährdende Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, Zeit für geeignete Gegenmaßnahmen zu gewinnen und durch Rückgriff auf dokumentierte Best-Practice-Verfahren dieselben Überlegungen kein zweites Mal mehr anstellen zu müssen. Das schließt auch die frühzeitige Erkennung einer wiederanziehenden Kundennachfrage und die damit verbundenen Maßnahmen zur Anpassung der Planungssysteme, der Kommunikation mit den Lieferanten und zum Wiederanlauf der Produktion mit ein.

Transparenz über die Supply Chain schaffen

Liegt eine solchermaßen gehärtete Absatzplanung vor, erfolgt die Einbeziehung von Produktion und Logistik im Rahmen des integrierten Sales & Operations Planning (S&OP). Auch hier stoßen die üblicherweise genutzten Verfahren in der Krise an ihre Grenze, denn von der sonst gewohnten Versorgungssicherheit wichtiger Komponenten kann nun nicht mehr ausgegangen werden. Zwingend ist die Gewinnung von Transparenz darüber, welche Kompo­nenten und/oder Dienstleistungen unverzichtbar für die Aufrechterhaltung der eigenen Produktion sind. Das steht an erster Stelle und liefert die Basis für die nachfolgende Analyse hinsichtlich der Versorgungssicherheit sowie darauf aufbauend der Ableitung, welche Endprodukte ggf. nur noch in reduzierter Menge oder gar nicht mehr produziert werden können. Dabei muss auch berücksichtigt werden, welchen Wertbeitrag die betreffenden Teile für das Unternehmen liefern, um bei Engpässen entscheiden zu können, welche Endprodukte für welche Kunden gefertigt werden sollen.

Kurzfristig kann hierfür ein abteilungsübergreifendes Team aus Produktion, Logistik und Einkauf aufgebaut werden, um auf Basis der Stücklistenpositionen eine Einstufung der Kritikalität der Teile und deren Wertbeitrag zu ermitteln. Die nachfolgende Analyse der Versorgungssituation für die identifizierten kritischen Material­gruppen bzw. Dienstleistungen erfolgt dann durch Logistik und Einkauf in enger Kommunika­tion mit den betreffenden Lieferanten. Bei erkannten bzw. drohenden Eng­pässen hilft kurzfristig die Identifikation der im eigenen Unternehmen als auch die bei Lieferanten verfügbaren Teilebestände sowie die im Transport befindlichen Mengen. Dabei müssen auch Sicherheitsbestände und Vorräte aus der Ersatzteilversorgung berücksichtigt werden. Sind auch diese nicht ausreichend, um den Bedarf zu decken, hilft nur die Suche nach alternativ verwendbaren Materialien und oder Lieferanten.

Um aber Transparenz über die gesamte Lieferkette zu bekommen, darf sich die Analyse nicht auf die unmittelbaren Lieferanten der ersten Ebene beschränken, sondern muss sich in gleicher Weise auch auf deren Lieferanten beziehen. Das Risiko von Lieferantenausfällen ist in der Regel deutlich höher auf den Sub-Ebenen der Lieferkette als bei den Direktlieferanten des Unternehmens. Um dem entgegenzuwirken, kommt dem Teilen der erforderlichen Informationen zu Bedarfen, Lieferkapazitäten, Beständen und Auslastung in dem Partner­netzwerk besondere Bedeutung zu. Dies mag bei Lieferanten unter Umständen auf Vor­behalte treffen, da sie sich durch eine zu große Offenheit in ihrer Bewegungsfreiheit einge­schränkt sehen könnten. Dieser Zielkonflikt muss letztlich auf einer vertraglichen Ebene zwischen Lieferant und Kunde aufgelöst werden. Auf der anderen Seite ermöglicht ein frühzeitiges Aufzeigen drohender Engpässe auch die Möglichkeit zur Unterstützung von Lieferanten bei deren Überwindung durch das ab­nehmende Unternehmen mit ein.

Mittel- bis langfristig ist die Hinterlegung von Kritikalität in verschiedenen Härtegraden und des Wertbeitrags eines Materials oder Vorproduktes in den Stammdaten erforderlich. Dies kann in Form eines Teile-Atlas erfolgen, der die Basis für eine anwendungsgestützte Beurteilung von Wertschöpfungsbeitrag und Risiko darstellt. Dadurch können manuelle Aufwände im Ad-hoc getriebenen Vorgehen durch die Generierung entsprechende Reports aus den ERP-Systemen ersetzt werden, was zu einem erheblichen Zeitgewinn führt und ein agileres Vorgehen ermöglicht.

Darüber hinaus muss der Aufbau eines digitalen Abbilds der Supply Chain einschließlich deren geographischer Verteilung und unter Berücksichtigung der Transportwege das Ziel sein. Sie liefert einerseits die Grundlage für das Monitoring der Warenflüsse und bildet anderseits die Basis zur Simulation drohender Krisen oder Störungen in der Zukunft. Die Nutzung von Cloud-Plattformen ermöglicht die unternehmensübergreifende Kollaboration und eine zentrale Sicht aller Partner auf die gleichen Daten. Zum Beispiel beteiligen sich immer mehr Unternehmen an der Automotive Alliance „Catena-X Automotive Network (Catena-X)“, einem Netzwerk für unternehmensübergreifenden Datenaustausch in der Automobilindustrie. Zu den Gründern des Partner-Netzwerks zählen die BMW AG, Deutsche Telekom AG, Robert Bosch GmbH, SAP SE, Siemens AG und ZF Friedrichshafen AG. Ziel ist es, einen einheitlichen Standard für Daten- und Informationsflüsse in der gesamten automobilen Wertschöpfungskette zu schaffen. Auch die Technologien zur Digitalisierung und weiteren Automatisierung der Produktion im Rahmen des Aufbaus der Smart Factory und deren Abbildung als digitaler Zwilling zahlen auf die Steigerung der Transparenz entlang der gesamten Supply Chain ein, wobei auch dabei die berechtigten Interessen aller Parteien gewahrt bleiben.

Liefernetzwerke in Richtung Widerstandsfähigkeit optimieren

Ist die Transparenz über die Partner der Lieferkette hergestellt, muss diese im nächsten Schritt in Bezug auf ihre Widerstandsfähigkeit überprüft und anschließend wo erforderlich optimiert werden.

Kurzfristig gilt es, die unmittelbare Versorgung bezüglich der als kritisch identi­fizierten Warengruppen und Dienstleistungen sowohl bei den Direktlieferanten als auch bei den Sub­lieferanten bestmöglich abzusichern. Hier kommt dem Informationsaustausch entlang der Lieferkette entscheidende Bedeutung zu. Bestmögliche Transparenz über die geplanten Bedarfe und Lieferzeitpunkte in einem angepassten rollierenden Forecast „downstream“ sowie Angaben zu aktuellen Produktionskapazitäten und Lagerbeständen sowie das kurzfristiges Aufzeigen von Versorgungsengpässen oder Logistikproblemen „up­stream“ bestimmen das Handeln und den Informationsaustausch im Krisenmodus.

Mittel- bis langfristig muss ein ad hoc-getriebenes Handeln jedoch durch ein geplantes ersetzt werden - schon alleine, um die eigenen Ressourcen zu schonen. Dafür ist eine Risikobetrachtung für das gesamte Liefernetzwerk notwendig, welche insbesondere auch den geographischen und logistischen Risiken Rechnung trägt. Ausgangsbasis hierfür stellen die in der Regel vorliegenden 360-Grad-Bewertungen der Lieferanten dar. Befinden sich die Lieferanten für kritische Warengruppen in Hochrisikogebieten beziehungsweise sind diese geographisch auf wenige Standorte konzentriert, stellt dies ein hohes Ausfallrisiko dar. Dieses kann entweder über den Dialog mit den Lieferanten längerfristig von diesen selbst gelöst werden oder erfordert vom Unter­nehmen die aktive Suche nach weiteren Lieferanten zur Erreichung der erforderlichen Geo-Redundanz. Inwiefern sich durch Covid-19 generell strukturelle Ver­schie­bungen bei der Verlagerung von Produktionsstandorten ergeben werden, wird die Zukunft zeigen.

In diesem Zusammenhang ist auch die genaue Analyse der Transportwege erforder­lich, um durch eine Diversifizierung logistische Risiken aufgrund erheblicher Verzögerungen an logistischen Knotenpunkten wie Häfen oder Flughäfen zu minimieren. Gründe dafür können beispielsweise begrenzte Ressourcen in Quarantänezonen, Personalengpässe durch die Pandemie, fehlenden Container­stellplätzen oder Leercontainer, kurzfristig geänderte Transportrouten oder der Ausfall von Logistikanbietern sein. Und selbst wenn das benötigte Material vom Lieferanten kurz hinter der Grenze im Nachbarland geliefert wird, kann dies plötzlich zum Problem werden, wenn der Grenzverkehr eingeschränkt wird oder sich extreme Staus aufgrund komplexerer Abfertigungsprozesse bilden. Die im Zuge der Pandemie vielfach wieder eingeführten innereuropäischen Grenzkontrollen und z.T. ‑schließungen waren im Schengen-Raum bei den meisten Logistik-Konzepten nicht als Option berücksichtigt. Und es gibt auch vermehrt Stimmen, ob dies die richtigen Maßnahmen waren. So spricht die EU-Kommission mittlerweile von „Überreaktionen“ und strebt eine Änderung des Abkommen an, das die Möglichkeiten der temporären Grenzschließungen reduzieren soll.

Generell sollten für eine robuste Lieferkette immer mindestens zwei Lieferanten mit geographisch getrennten Produktions- sowie Liefer­standorten vorhanden sein. Je größer die Nähe der Lieferanten zu den Produktions­­standorten des eigenen Unternehmens ist, umso höher auch die Wahrscheinlich­keit, auch bei drastischen Ereignissen wie Corona eine Versorgung aufrecht erhalten zu können. Beispiele hierfür finden sich in der Automobil­industrie, bei der sich wichtige Kernlieferanten mit ihren Produktionsstandorten meist in unmittelbarer Nähe der Werke befinden. Die aus einer regionalen Versorgung ent­stehenden Mehrkosten müssen gegen die bewerteten Risiken eines längeren Produktions­ausfalls aufgrund von Lieferengpässen auf­gewogen werden – auch dies eine Aufgabe des umso wichtiger gewordenen Risiko­managements.

Drohende oder bereits eingetretene Produktionsausfälle aufgrund fehlender Nachfrage können – auch wenn sie nur temporär sind – die finanzielle Stabilität von Lieferanten massiv belasten. Folglich kommt auch dem kontinuierlichen Monitoring der Finanzkennzahlen basierend auf öffentlich zugänglichen Quellen, Bilanzanalysen, aufbereiteten Daten von Wirtschafts­diensten und dem Scannen von Nachrichten in sozialen Medien eine nochmals gesteigerte Bedeutung zu.

Sollten bei Schlüssel­lieferanten in der Lieferkette Engpässe erkennbar werden, muss das Unternehmen abwägen, ob Maßnahmen zur Stabilisierung des Lieferanten unter dem Strich nicht vorteilhafter sind als der Aufbau und die Integration neuer Lieferanten. Auch hier zeigt sich die Bedeutung der Transparenz entlang der gesamten Lieferkette, da sie den Partnern frühzeitig bezüglich drohender Schwierigkeiten warnen und somit Handlungsoptionen eröffnen, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Letztlich müssen im Sinne der Aufrecht­erhaltung der eigenen Produktion jedoch auch Szenarien im Falle von Insolvenzen kritischer Lieferanten vorgedacht und aktuell gehalten werden.

Aber nicht nur nach außen, auch nach innen kann der Einkauf in Zusammenarbeit mit Produktion und Produktmarketing im Rahmen des Product Engineerings Maßnahmen zur Verringerung der Abhängigkeiten von Lieferanten und damit der Steigerung von Resilienz bei der Materialversorgung erreichen. Ein Rückgriff auf einfachere Komponenten beziehungsweise solche, für die es mehrere, gegebenenfalls auch regional verfügbare Lieferanten gibt, kann schon im Produkt­design für eine Reduktion risikobehafteter Abhängigkeiten zu kritischen Lieferanten sorgen.

Management des Wiederanlaufs und Lernen aus der Krise

Nach dem Rückgang der Infektionszahlen der ersten Welle konnten Unternehmen die Produktion im Sommer 2020 in den meisten Fällen wieder anlaufen lassen. Wobei vielfach mit deutlich reduzierter Produktionsmenge, sowohl aufgrund von Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen, die die Anzahl der Werker in den Produktionshallen beschränkte und Abläufe verlangsamte, als auch aufgrund noch nicht wieder voll angelaufener Lieferketten. Dazu kamen Engpässe in der Halbleiterindustrie, die gerade in der Automobilindustrie zu Produktionsstillständen geführt haben. Die sich in einigen Bereichen erholende Nachfrage, insbesondere aufgrund des sich auch langsam wieder öffnenden Handels, kann daher nicht für alle Produkte voll erfüllt werden. Und viele Rohstoffe haben sich durch die Krise stark verteuert, was in vielen Folge-Branchen der Fertigung bis zur Bau-Industrie zu stark gestiegenen Preisen bzw. Engpässen bei Baumaterialien geführt hat.

Die Auswirkungen der Corona-Krise haben zu einer schweren Wirtschaftskrise geführt, deren Folgen die Regierungen vieler Staaten mit um­fassenden Konjunktur- und Hilfsprogrammen abzumildern versuchen. Wie sich das auf den privaten Konsum und die Unternehmen auswirken wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden. Ebenso bleibt der weitere Verlauf der Pandemie ungewiss, zumindest solange die Impfungen nicht flächendeckend erfolgt sind und unklar ist, inwieweit Virus-Mutationen auch trotz Impfung zu Erkrankungen führen können. Die Unternehmen werden folglich noch auf absehbare Zeit mit hohen Unsicherheiten zurecht­kommen müssen.

Dennoch sind jetzt schon Entwicklungen erkennbar, die zu Veränderungen in den Liefernetzwerken in der Post-Corona Zeit führen werden. Die Notwendigkeit, Lieferketten transparenter und robuster gegen äußere Störungen zu gestalten, ist unverkennbar. In den Zeiten einer rasch voranschreitenden Digitalisierung und Automatisierung sind zunehmend die erforder­lichen Werkzeuge, Verfahren und Technologien vorhanden, um diesem Ziel nahe zu kommen.

Einen weiteren Aspekt für die zukunftssichere Gestaltung von Lieferketten und Logistik-Konzepten stellt das im März 2021 verabschiedete „Lieferkettengesetz“ dar. Das Bundeskabinett hat einen „Gesetzesentwurf über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“  beschlossen, wodurch deutsche Unternehmen verpflichtet werden, ihrer globalen Verantwortung für bessere Umwelt- und Arbeitsbedingungen nachzukommen. Da Deutschland besonders stark in internationale Lieferketten eingebunden ist und Rohstoffe vieler Produkte sowie Produkte selbst werden zu nicht vertretbaren Umwelt- und Arbeitsbedingungen in Entwicklungs- und Schwellenländern abgebaut und hergestellt werden, besteht hier großer Handlungsbedarf für Unternehmen.

Das deutsche Lieferkettengesetz soll zunächst ab 2023 für Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gelten. Ein Jahr später bereits auch für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeiter*innen. Gemäß der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte werden Unternehmen verpflichtet, zu ermitteln, inwieweit ihre Geschäftstätigkeit zu Menschenrechtsverletzungen führen kann. Dabei bezieht sich die Sorgfaltspflicht auf die gesamte Lieferkette des Unternehmens – vom Rohstoff bis zum fertigen Verkaufsprodukt. Dies bedeutet, dass Transparenz über die gesamte Lieferkette geschaffen und die Produktion stärker anhand der Nachhaltigkeitsdimension im Sinne der sogenannten Triple Bottom Line ausgerichtet werden muss. Neben der sozialen Dimension hinsichtlich der Lieferkette spielt auch die ökologische Dimension eine immer wichtigere Rolle. Unternehmen müssen ihre Lieferketten genau evaluieren, verstehen und Transparenz schaffen.

Digitalisierung und Automatisierung liefern die erforder­lichen Werkzeuge, Verfahren und Technologien

In einem idealen Fall wird ein Liefernetzwerk durch ein digitales Abbild unterstützt. Dieser digitale Zwilling kann die notwendige Transparenz über das Liefernetzwerk in Echtzeit bereitstellen. Smarte Analysewerkzeuge – gegebenenfalls unter Einsatz von Künstlicher Intelligenz – entdecken Abweichungen und ermitteln Risiken. Mit einem Simulationsmodul können Szenarien entwickelt und daraus Handlungsmöglichkeiten abgeleitet werden. Bei einer eintretenden Krise, liegen dann konkrete Vorschläge bereit, die zügig realisiert werden können und die Resilienz des Liefernetzwerks stark erhöhen.

In den wenigsten Fällen stand ein derartiger digitaler Zwilling zu Beginn der Corona-Krise bereit. Die wenigen vorhandenen Beispiele zeigen deutlich, wieviel Unterstützung für das eigene Geschäft hieraus erwachsen kann. Es lohnt sich daher in jedem Fall mit dem Aufbau zu beginnen. In einem ersten Schritt reicht es aus, alle Information über das eigene Liefernetzwerk in digitaler Form zusammenzustellen. Daraus kann dann kurzfristig eine erste Version des digitalen Abbilds entwickelt werden.

Technologie alleine wird in einigen Branchen jedoch nicht ausreichend sein, um die gewünschte Resilienz zu erreichen. Hier wird es auch zu strukturellen Veränderungen in den Lieferketten kommen, beispielsweise durch die Diversifizierung der genutzten Lieferanten, ggf. in Verbindung der vermehrten Nutzung regionaler Zulieferer zur Reduktion geo­graphisch/sozioökonomischer wie logistischer Risiken. Aber auch die Neugestaltung von Verträgen zur Erreichung von mehr Transparenz und einer Stärkung der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Kunde und Lieferant ist eine Option.

Damit werden für Unternehmen vier Dinge wichtig:

  1. Verbesserung der Fähigkeiten zum Verständnis und der Prognose des Kunden­bedarfs auch bei einschneidenden Ereignissen
  2. Aufbau von Transparenz insbesondere durch Digitalisierung und Resilienz in den Lieferketten aus einer Ende-zu-Ende-Sicht
  3. Ausweitung des Risikomanagements und der Kollaboration mit den Lieferanten und deren Sublieferanten entlang der gesamten Lieferkette, auch im Sinne des Lieferkettengesetzes
  4. Lernen aus der Krise und Absicherung der gemachten Erfahrungen sowie der ergriffenen erfolgreichen Gegenmaßnahmen, um sie operabel und bei zukünftigen Vorkommnissen verfügbar zu haben

Zum Erreichen dieser Ziele bietet sich die Betrachtung der Fähigkeiten an, die dem Unter­nehmen in der Hochphase der Krise gefehlt haben, in kurzer Zeit aufgebaut werden mussten oder nun nach dem Verlassen des ad hoc-getriebenen Handelns für die Phase nach dem Pandemieschock benötigt werden. Auf Basis einer Fähigkeiten-Landkarte kann der aktuelle Reifegrad erfasst und Handlungsfelder ganzheitlich und konsistent identifiziert werden. Im nächsten Schritt können gezielt für die dringend zu verbessernden Fähigkeiten geeignete Maßnahmen, Verfahren und Digitalisierungstechnologien identifiziert werden, um die gewünschten Ver­besserungen schnell zu erreichen. Diese bilden dann die Basis für eine Projektierung, den Abgleich mit bereits aufgesetzten Projekten im Unternehmen und die Ableitung einer Resilienz-orientierten Umsetzungs-Roadmap.

Flankiert werden sollte dieses Vorgehen von „Lessons learned“-Workshops zur Aufarbeitung des Vorgehens in der Krise und der Identifikation der Inhalte und Vorgehensweisen, die im Sinne der Business Continuity erfasst und für die Zukunft aufbereitet werden sollen.

Für die Unternehmen lassen sich aus der Covid-19-Pandemie vielfältige Maßnahmen ableiten, die geeignet sind, sich auf künftig zu erwartende erhebliche Störungen in den Liefernetzwerken einzustellen, und diesen durch eine erhöhte Resilienz im eigenen Unternehmen als auch im gesamten Lieferantennetzwerk entgegenzuwirken. Digitalisierung und Automatisierung können hierbei einen hohen Wertbeitrag liefern, wenn sie gezielt und an den richtigen Stellen zum Einsatz kommen. Fähigkeiten-Landkarten und Heatmaps bieten einen geeigneten stabilen Ordnungsrahmen, um Transparenz, Resilienz und Digitalisierung gezielt und im erforderlichen Maße zu erhöhen. „Lessons learned“, Best Practices und eingeleitete Maßnahmen lassen sich so stets eindeutig zuordnen und in ihrer Wirkung bewerten.