Die Fertigungsindustrie ist massiv von der weltweiten Krise betroffen. Wenn Lieferketten zusammenbrechen und Maschinen stillstehen, könnte die Zeit dafür da sein, darüber nachzudenken, wie mit weiteren Möglichkeiten der Digitalisierung und Automatisierung derartige Krisensituationen besser gemeistert werden können.
VW, Porsche, BMW, Daimler oder Opel: Nach dem Produktionsstopp in den vergangenen Wochen, fährt die Automobilindustrie ihre Produktion wieder langsam hoch. Mitte März 2020 hatte die Krise „das Herz der deutschen Industrieproduktion erreicht“, schreibt das Handelsblatt. Auch bei den Zulieferern standen die Maschinen immer häufiger still. Eine Blitzumfrage des VDMA unter den Maschinenbauern in Deutschland unter rund 1.000 Maschinenbauern kommt Ende März zum Ergebnis: 84 Prozent der Befragten hatten zu diesem Zeitpunkt schon mit nennenswerten Beeinträchtigungen des Betriebsablaufs zu kämpfen.
Ein Ende ist noch nicht abzusehen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) rechnet – mit dem Wissen von Anfang April – für Deutschland mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von drei bis sechs Prozent im Jahr 2020. Voraussetzung für diese Einschätzung sei eine Unterbrechung der wirtschaftlichen Aktivität von maximal sechs Wochen, so BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang. Die Konsequenzen, die zum Beispiel die Maschinenbauer aus den Umsatzeinbußen ziehen, sind verständlich, aber gefährlich. Knapp drei Viertel der Betriebe wollen Investitionsvorhaben für 2020 kürzen, die Hälfte im Bereich 10 bis 30 Prozent und etwa ein Viertel im Umfang von mehr als 50 Prozent. Für die Zeit nach der Krise, sei es eines der drängendsten Aufgaben, „die Investitionen wieder in Gang zu bekommen”, sagt der VDMA-Chefvolkswirt Dr. Ralph Wiechers.
Überreizte Lieferketten
Soweit zur aktuellen Situation. Welche Bereiche und Prozesse in der Fertigungsindustrie sind betroffen und könnten durch geänderte Strategien und digitale Lösungen nicht nur in der aktuellen Krise helfen, sondern auch langfristig die Produktivität steigern und Umsätze der Unternehmen erhöhen? Supply Chain, Vollautomatisierung, Maintenance, Vernetzung, Vertrieb und Verwaltung.
Die extrem auf Effizienz und Minimierung von gebundenem Kapital ausgerichteten JIT/JIS-Lieferketten (Just-In-Time / Just-In-Sequence) in der Automobilindustrie zeigen aktuell ihre Schwäche: Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Wenn ein Zulieferer seinen Beitrag nicht in der extrem eng getakteten und über mehrere Stufen aufgebauten Lieferkette „just in time“ liefern kann, reißt die komplette Kette ab.
Im Maschinenbau sieht es noch nicht so ganz dramatisch aus. Laut der VDMA-Blitzumfrage vom 28. März 2020 gaben 61 Prozent der Befragten Maschinenbauer an, sie könnten Störungen der Lieferkette teilweise durch alternative Lieferanten abwenden. Jeder fünfte Maschinenbauer hat jedoch keine Alternative und müsste damit seine Produktion einstellen, sobald Bauteile nicht mehr auf Lager sind und nicht mehr nachgeliefert werden.
Supply Chain braucht Transparenz
Was sollten Unternehmen aus der Krise lernen und wie können sie sich schneller an veränderte Marktbedingungen anpassen? Zunächst müssen sie ihre teilweise hochgezüchtete Supply Chain überdenken. Denn die Kette ist inzwischen so hoch sensibel, dass selbst der erneute Anlauf nach einer Krise nicht einfach sein wird. Wenn ein Auto aus mehr als 10.000 oder ein PC aus mehreren 100 Einzelteilen besteht, die zig Zulieferer in der ganzen Welt herstellen, lässt sich die Lieferkette nicht auf Knopfdruck anschalten. Hat ein Land die Krise überstanden und die Zulieferer produzieren wieder, kann ein anderes Land erst gerade mitten in der Krise stecken. Aktuell sehen wir dieses Phänomen beispielsweise bei den in China wieder hochgefahrenen Werken, denen Komponenten aus den europäischen Werken fehlen.
Dafür allerdings brauchen Lieferketten mehr Transparenz, die heute oft nicht vorhanden ist. Welcher Autobauer weiß wirklich, welcher Tier 2, 3 oder 4-Lieferant in der Lieferkette steckt, was und wo er genau produziert. Digitale Supply-Chain-Lösungen gepaart mit Vertrauen eines partnerschaftlichen Zusammenarbeitsmodells können diese Transparenz schaffen. Dabei haben alle Teilnehmer einer Kette Zugriff auf Daten, auf deren Basis sie digitaler zusammenarbeiten, ihre Produktion besser planen, eigene Lagerbestände verwalten und wiederum ihre Zulieferer genauer steuern können.
Endproduzenten und Zulieferer sollten daher ihre Supply Chain überdenken und die Risiken und Kosten der Lagerhaltung auf alle Schultern verteilen. Aktuell tragen die Zulieferer und Logistiker die Risiken weitgehend allein. Ein partnerschaftliches Miteinander, statt ein Auspressen selbst minimaler Einsparpotenziale, scheint in Zukunft der richtige Weg zu sein. Gemeinsam betriebene, größere Zwischenlager könnten auch erste Verbesserungen bringen. Oder doch für kritische Bauteile wieder auf mehrere Lieferanten zugreifen, die ein einziger Zulieferer vielleicht nicht in größerer Stückzahl vorhalten kann.
Ausbau der Automatisierung
Viele Produktionsbereiche der Fertigungsindustrie arbeiten schon zu überwiegenden Teilen automatisiert oder sogar vollautomatisiert. Zumindest gilt dies für Teilstrecken der Produktion. Doch es gibt noch weiteres Potenzial durch Industrial IoT, mit der sich zum Beispiel Maschinen remote steuern lassen. Dann könnten mehr Produktionsprozesse auch ohne Präsenz von Menschen an der Maschine weiterlaufen. Dies gilt wahrscheinlich nur bedingt für die Endmontage. Aber in der Fertigung von Vorprodukten und Komponenten ist noch Luft nach oben für die durch Digitaltechnologie vernetzte Vollautomatisierung.
Eine besondere Rolle spielt hierbei der digitale Zwilling, der eine vollständige virtuelle Abbildung der realen Welt ist. Dies kann sowohl die Produktionsmaschinen und ihre Abläufe betreffen als auch die Komponenten, Werkstücke und fertigen Produkte. So lassen sich Logistik- und Produktionsabläufe simulieren, Schwachstellen frühzeitig erkennen und die Steuerung der Produktion optimieren – auch über Unternehmen hinweg über die gesamte Liefer- und Produktionskette.
Die Ergebnisse der IDG-Studie „Internet of things 2019“ zeigt, dass sich der Automatisierungsteilbereich des IoT durchsetzt – aber eher evolutionär. Immerhin gut die Hälfte der für die Studie befragten Unternehmen bewertet inzwischen die Relevanz von IoT als hoch bis sehr hoch. Ein Fünftel der Firmen hat erste IoT-Projekte umgesetzt. Aber nur vier Prozent der Firmen plant einen breiten Roll-out oder hat ihn schon umgesetzt. Die Gründe für die eher verhaltene Einführung werden genannt: mangelnde Relevanz, andere Prioritäten, unreife Technik oder zu hohe Sicherheitsrisiken.
Diese Gründe sind aus aktueller Sicht wenig nachvollziehbar. Was erstaunt, ist das Argument fehlender Relevanz. Denn in derselben Studie geben deutlich über zwei Drittel (68,9%) der befragten Unternehmen an, sie seien mit den Ergebnissen der bisherigen IoT-Projekte zufrieden bis sehr zufrieden. Fatal wäre, wenn sich aufgrund der Krise die Prioritäten zuungunsten der Einführung digitaler Technologien weiter nach hinten verschieben würden.
Remote Maintenance und Over-the-Air-Updates
In der Fertigungsindustrie spielt die Wartung und Instandhaltung von Maschinen eine entscheidende Rolle für den reibungslosen Produktionsablauf. Dies gilt insbesondere für Verschleißteile. Hier können Roboter beispielsweise abgenutzte Bohrer oder Fräsköpfe austauschen, sich so der Automatisierungsgrad erhöhen und die Wartung aus der Ferne steuert lassen. Vor allem aber kann durch entsprechende Sensorik und digitale Verarbeitung der Sensordaten der Bedarf für Wartung frühzeitig erkannt und präventive Wartung vorgenommen werden, ohne dass ein Mensch in der Werkshalle den Zustand der Maschinen und Werkzeuge in Augenschein nehmen muss.
Und: Durch zunehmende Anteile Software-gesteuerter Funktionalitäten von Maschinen können diese Anteile der Wartung vollständig remote erfolgen. Die Software wird dann bei entsprechender Vernetzung der Maschinen durch Over-the-Air-Updates (OTA) aktualisiert. In der Automobilindustrie wird OTA zunehmend nicht nur in der Produktion eingesetzt, sondern auch für die Produkte selber. Anstatt für notwendige Updates der Steuergeräte – seien es „normale“ Wartungen oder Rückrufe – in die Werkstatt zu fahren, können OEMs Informationen aus der Bordelektronik aus der Ferne aus dem Fahrzeug auslesen und neue Funktionen einspielen. Dies passiert im Hintergrund, ohne den Fahrzeughalter zu stören. Dies spart nicht nur Kosten für Wartungsarbeiten: Mit Over-the-Air-Updates lassen sich auch neue Funktionen einspielen (Function on Demand/Digital Retrofit).
Bei Tesla bereits seit Jahren üblich, wollen jetzt immer mehr Autohersteller OTA nutzen. Ab August 2020 kommt bei GM eine neue Elektronikplattform zum Einsatz, mit der sich Software-Updates wie bei Smartphones durchführen lassen. Und Ford will neu entwickelte Fahrzeuge in den USA mit einer OTA-Update-Funktionalität für beinahe alle Steuergeräte ausstatten. Volkswagen bietet diese Funktionalität beim neuen Golf 8 und bei seinen Elektromodellen der neuen ID-Reihe, weitere Modelle und andere Deutsche OEM wollen folgen. Häufig allerdings zunächst nur für einige ausgewählte Steuergeräte, nicht für die sensible Steuerung der Motorelektronik und anderer sicherheitsrelevanter Funktionalitäten. Hier wird im Zuge der Weiterentwicklung des (teil-)autonomen Fahrens in naher Zukunft sicher ein großer Entwicklungssprung stattfinden. Dies wird – allerdings erst nach entsprechender Verfügbarkeit dieser Möglichkeit bei einer Vielzahl von Autos im Markt – einen großen Teil der heute noch erforderlichen Werkstattbesuche, die derzeit aufgrund von Corona weitgehend nicht möglich sind, überflüssig machen. Und: Diese Möglichkeit steht und fällt mit der Lösung der Frage der Cyber Security: OTA-Updates erfordern ganz neue Level an Sicherheit der Software gegen Manipulation und Fremdeingriffe.
Campusnetze und selbstfahrende Maschinen
Cyber-physische Systeme (CPS) steuern heute komplexe Produktionsabläufe. Sie sind anpassungs- und wandlungsfähig, wodurch sie ihren Teil zur Effizienzsteigerung beitragen. So lässt sich die Geschwindigkeit von Abläufen steigern. Zum anderen laufen die Prozesse überwiegend automatisiert und weitgehend autonom ab. Menschen übernehmen nur noch Kontroll- und Steuerungsfunktion. CPS bilden damit einen zentralen Baustein von Industrie 4.0. und ermöglichen, die Produktion auch dann aufrecht zu erhalten, wenn Menschen aufgrund von Viren oder anderen Gründen nicht anwesend sein können.
Autonome, also selbst fahrende Systeme werden über den Echtzeitaustausch von Daten gesteuert. Bisherige mobile Netztechnologien stießen dafür an Grenzen. Auf WLAN basierende Netzwerke waren für Echtzeitdatenübertragung nicht geeignet. Fehlende Reichweite machten in großen Produktions- und Lagerhallen oder auf großräumigen Werksgeländen ein Ausrollen von engmaschigen Hardwarekomponenten notwendig. Trotzdem reichte die Qualität nicht für selbstfahrende Arbeitsmaschinen und Transport-Roboter über längere Strecken, insbesondere aufgrund der Unterbrechungen an den Übergabepunkten von einem Sender zum nächsten.
Dies ändert sich nun mit dem Einsatz von 5G-Mobilnetzen in der Produktion, den 5G-Campus-Netzen. Erste Hersteller planen bereits, Industrial 5G in ihren Produktionsstätten einzusetzen. Sie wollen damit flexibler produzieren und auch den Automatisierungsgrad weiter erhöhen, zum Beispiel mit fahrerlosen Transportsystemen (AGV). Immer häufiger sind autonome Transportsysteme und intelligent reagierende Fahrzeuge im Einsatz, die das Layout von Standorten kennen und im Problemfall eigenständig Ausweichrouten wählen, um die Produktion weiter mit Material zu versorgen.
Digitale Customer Journeys für Vertrieb und Service
Was lehrt uns die Krise in Bezug auf den Kontakt mit den Kunden? Auch hier zeigen sich in Zeiten von Kontaktverboten und zwangsweise geschlossenen Verkaufsräumen und Werkstätten die Vorteile von digitalen Kundenkontaktpunkten. Diejenigen OEMs, Händler und andere Unternehmen der Automobil- und Fertigungsindustrie, die bereits Möglichkeiten für die digitale Kommunikation mit ihren Kunden und – im B2B-Geschäft – mit ihren Partnern geschaffen haben, können damit auch während der Krise den Kontakt aufrechterhalten. Hier kann die gesamte Industrie noch viel von anderen Branchen lernen, allen voran der Telekommunikations- und Endconsumer-Industrie. In der Fertigungsindustrie – gerade auch im typischen „Deutschen Mittelstand“ – besteht für das B2B-Geschäft oftmals noch die landläufige Meinung, dass Vertrieb und Betreuung nur durch persönliche Kontakte erfolgen kann.
Die Krise zeigt jetzt, dass das Argument vom persönlichen Kontakt nicht mehr das alles Entscheidende ist. Nicht nur junge Endkunden, die als „Digital Natives“ ohnehin die digitalen Kommunikationskanäle bevorzugen, sondern auch Mitarbeiter in Unternehmen erkennen für das B2B-Geschäft die Potenziale, die beispielsweise Videokonferenzen und andere Kollaborations-Tools wie MS-Teams, Skype, WebEx, Zoom oder WeChat bieten, um mit Partnern weiterhin Geschäft zu machen. Das schließt sowohl die Aufrechterhaltung von bereits etablierten Beziehungen zur Loyalisierung ein als auch die Anbahnung neuer Geschäfte im Vertrieb.
CEO, CIO oder COVID-19?
Diejenigen Unternehmen, die ihre Kundenkontaktpunkte digital bedienen können und deren Mitarbeiter erfahren sind im Umgang mit der digitalen Kommunikation, erhalten somit einen großen Wettbewerbsvorteil. So bekommt die aktuell in den Sozialen Medien umgehende, ursprünglich scherzhaft gedachte Frage, eine viel ernsthaftere und tiefgründigere Bedeutung: Wer hat in Ihrem Unternehmen die Digitalisierung vorangetrieben: a) CEO, b) CIO, c) COVID-19?
Und schließlich zeigt sich in der Krise auch in der Fertigungsindustrie, dass durch digitalisierte Büroarbeit und Ansätze von New Work das Management und die Verwaltung des Unternehmens nahtlos weiterlaufen können. Diejenigen Anteile der Wertschöpfung, die nicht in der Produktionshalle mittels Maschinenpark erfolgen müssen, können ebenso wie in anderen, dienstleistungsgeprägten Branchen auch ohne persönliches Zusammenkommen weitgehend vom Home Office erfolgen. Vorausgesetzt, die hierfür erforderliche Kommunikationsinfrastruktur und die Kollaborationstools wie Video-Conferencing und die zuvor bereits genannten Conferencing Services stehen zur Verfügung – gepaart mit dem erforderlichen Mindset und den Fähigkeiten der Mitarbeiter*innen, diese Tools auch einzusetzen.
Manufacturing: Gestärkt durch die Krise
Wenngleich die Fertigungsindustrie mit zu den am stärksten betroffenen Branchen der Corona-Krise zählt, so hat sie andererseits auch die Chance, hieraus zu lernen und insbesondere die Möglichkeiten der Digitalisierung verstärkt einzusetzen. Nicht nur als Prävention für die nächste Krise, die – hoffentlich – nicht so schnell wiederkommen wird. Sondern auch, um die Vorteile der digitalen Technologien und dazugehöriger Organisationen und Prozesse generell nutzen zu können. So kann die Krise am Ende vielleicht auch etwas Gutes bewirken: Die Beschleunigung der Digitalen Transformation in der Automobil- und Manufacturing Industrie.