René Rohrbeck ist Professor für Strategie und Direktor des Lehrstuhls für Foresight, Innovation und Transformation an der EDHEC Business School, einer der Top 5 der Grandes Écoles der Wirtschaftswissenschaften in Frankreich. Als international anerkannter Vordenker und Preisträger entwickelt er kontinuierlich neue Methoden und Instrumente, die Organisationen helfen, in die Zukunft zu blicken, sich zu erneuern und Strategie und Innovation unter Unsicherheit zu managen. Im Gespräch mit Detecon-Partner Steffen Kuhn erörtert er die Herausforderungen für Innovationsaktivitäten in der Corona-Krise.
Steffen Kuhn: Professor Rohrbeck, wie haben Sie die letzten Monate die Corona-Zeit in Paris und Lille erlebt?
Prof. Rene Rohrbeck: Nun, Präsident Macron überraschte uns eines Tages ja mit der Nachricht, dass wir ins im „Kriegszustand“ mit einem Virus befinden. Es fühlte sich auch ein wenig so an. Gerade im Norden Frankreichs geriet man aufgrund der hohen Fallzahlen in einen Schockzustand. Es ging hier ums Überleben. Es gab über zwei Monate strikte Ausgangssperren, nur mit Bescheinigungen und Auflagen durfte man sich eine Stunde, möglichst ohne Kinder, außer Haus aufhalten. Auch mit Garten fühlte man sich recht eingesperrt und nicht wirklich als freier Mensch. Nach vier Wochen echtem Krisengefühl gewöhnte man sich etwas und richtete sich in einer neuen Art von Normalität ein. Es wurde akzeptiert, die meisten Läden nicht mehr zu besuchen, und auch Parks nur noch zum Joggen zu nutzen. Gemeinhin waren Auswirkungen und Gefühlslage deutlich drastischer als in Deutschland. Auch in Dänemark, wo ich eine Zweitprofessur an der Universität Aarhus habe, war alles deutlich offener und lockerer.
Wie reagierten die Unternehmen auf diese Herausforderung? Gab es spezielle Strategien?
Viele waren erst mal verzweifelt. Ich erinnere mich an eine bemerkenswerte Begegnung mit einem Gastronomen kurz vor dem Shutdown von Restaurants, die ich dann auf LinkedIn wiedergab. Er fühlte sich einer völligen Unsicherheit ausgeliefert. Ich überredete ihn dazu, sich einmal verschiedene Szenarien näher vor Augen zu führen. Danach empfand er sehr viel deutlicher, welche Werte er zu bieten hat, die Kunden auch in schwierigen Zeiten sehr wichtig sind. Es gibt immer Fundamente eines Geschäftsmodells, die besonders stabil sind. Etwa das Gefühl, ein Essen als besonderen Moment zu erleben. Und das notfalls nicht im Restaurant, sondern vielleicht im Freien oder sogar im Auto auf dem Parkplatz vor dem Restaurant.
Die meisten französischen Unternehmen schlugen eine Art Bärenstrategie ein: Also, wie ein Bär den Winterschlaf ansteuern, um damit den „Kriegszustand“ irgendwie zu überleben. Instrumente dazu waren die Reduktion auf Teilzeitarbeit und das Vertrauen auf den Staat, der hier sogar 84 Prozent der Lohnfortzahlung übernahm. In Großbritannien, wo Mitarbeiter von mir leben, wandten dagegen viele Unternehmen eine Ameisenstrategie an: In einer Kolonie laufen nämlich etwa 70 Prozent der Ameisen dorthin, wo sie exakt wissen, dass Nahrung vorhanden ist. Die restlichen 30 Prozent bewegen sich aber dort, wo Nahrung nur eventuell sein könnte. Unternehmen im Krisenmodus brauchen vor allem diese 30 Prozent!
Welche konkreten Maßnahmen leiteten Unternehmen ein? Waren diese erfolgreich?
Der erste Fokus galt der Business Continuity, also der Identifikation besonders kritischer Prozesse sowie dem Bereitstellen von Infrastruktur zur Heimarbeit. Dies gelang auch alles mehr oder weniger erfolgreich. Schwieriger war dagegen, Raum für Kreativprozesse zu schaffen, die neuen Möglichkeiten aufdecken und Innovation ermöglichen. Hier nahm die Produktivität auch durch Heimarbeit ab. Reporting-Standards lassen sich recht gut digital abbilden, aber Produkt- und Marketingstrategien oder Innovationsarbeit weitaus schwieriger. Ohne effektive Tools, etwa virtuelle White Boards, gelingt dies kaum.
Vieles hängt zudem vom Führungsstil ab, der in Frankreich traditionell eher direktoral geprägt ist. Vorgesetzte schätzen hier eine gewisse Konformität von Lösungen und möchten sie überall ausrollen. Dieser Stil ermöglicht in einer Krise zunächst einmal ein schnelles Handeln. So gibt es keine Pluralität von Bundesländern, die alle eigene Konzepte entwickeln dürfen. Um aber aus einer Krise auch wieder herauszufinden, etwa anhand neu erforschter Geschäftsfelder, ist hingegen ein kreativer Stil vonnöten, der Opportunitäten aufzeigt und auch Dissonanzen erlaubt.
Gibt es Beispiele, die Ihnen imponiert haben?
In der Automobilindustrie vierhielten sich einige Zulieferer sehr agil: Ein Mittelständler, mit dem wir in einem Innovationsprogramm zusammenarbeiteten, war auf die Fabrikation von Antennen in Glasscheiben spezialisiert. Er nutzte die Ameisenstrategie: Im Labor entwickelte er neue Lösungen für kontaktloses Bezahlen oder kontaktlose Identifizierung und konnte dabei Vorhandenes nutzen. Faktoren wie Glas, Sichtbarkeit und kontaktlose Prozesse sind in der Corona-Krise wichtig und die Firma hat Expertise dazu. So entstanden neue Umsätze unter Verwendung vorhandener Technologien.
Wie gehen Firmen generell derzeit mit Innovationen um? Sollten diese gerade jetzt forciert oder doch lieber heruntergefahren werden?
Aktuell beobachten wir, dass jeder Euro umgedreht wird, und das ist auch richtig so, da Free Cash Flow derzeit sehr wertvoll ist. Nur so werden Reinvestitionen oder Einstiege in neue Geschäftsmodelle überhaupt möglich. In vielen Firmen ist es nicht einfach, weiter Geld für Innovationen auszugeben.
Ein wichtiger Schlüsselfaktor ist die kluge Verteilung von Teams und Budgets: Sie brauchen ein Team, das aus kurzfristiger Perspektive Innovationen prüft und dabei auch Kosten und Kapazitäten mitbetrachten muss. Klar getrennt davon muss es aber auch ein Team geben, das langfristige Optionen prüft. Unternehmen, die so agieren, sind besser in der Lage zu innovieren, da sie nicht mehr mit der Gießkanne in großem Portfolio unterwegs sind. Zudem ist das Commitment des Vorstands umso höher, wenn nicht mehr in 10, sondern nur noch in zwei Themen investiert wird. Diese zwei Themen sind dann aber auf Herz und Nieren geprüft und werden konsequent gefördert.
Ein weiterer Faktor sind agile Aktivitäten in Ökosystemen! Eines unserer Programme an der EDHEC heißt „Fit-to-Fly“, wo wir Flughäfen, die sich sonst eher als Konkurrenten sehen würden, gemeinsam mit Airlines und Zulieferern an einen Tisch bringen, um gemeinsam Technologien zu nutzen und Antworten auf aktuelle Kundenbedürfnisse zu finden.
Welche strategischen Methoden empfehlen Sie, um systematisch gute Entscheidungen abzuleiten?
Neben Reifegradmodellen, die strategische Vorbereitungen gut messen können, ist das wichtigste Instrument für eine Phase der Unsicherheit immer die Szenario-Analyse. Hier geht es nicht nur um Handlungsfähigkeit, sondern auch um eine kognitive Agilität, sich beispielsweise eine Welt voller rollender iPhones überhaupt vorstellen zu können. Wie ist es denn, wenn sich Autos äußerlich kaum noch unterscheiden und nur der Transport und Entertainment im Inneren wichtig sind? Solche Analysen ermöglichen insbesondere großen Unternehmen zügige und zielgerichtete Entscheidungen.
In Kollaborationsprojekten arbeiten wir zudem viel mit Innovationsradaren, die im Zeitverlauf die Treiber von Veränderungen beobachten sollen. Hier findet übrigens ein Wandel statt: Während bis dato die menschliche Vorstellungskraft entscheidend war, zieht nun immer mehr Big Data in die Recherche- und Innovationsprozesse ein. Oft stellt sich durch automatisiertes Scannen von Dokumenten und Venture-Capital-Datenbanken heraus, dass die eigene Idee überhaupt nicht neu ist und ein, zwei Startups hier schon Lösungen entwickeln. Der Mehrwert ist dann, geeignete Kombinationsmöglichkeiten zu eruieren und nicht das Rad nochmal neu zu erfinden.
Was müssen Innovationseinheiten jetzt tun?
Sie sollten eine Plattform schaffen, die verschiedene Blickwinkel und Kompetenzen zusammenbringt. Innovation entsteht dort, wo der Technologe mit dem Produktverantwortlichen spricht, wo der Telekommunikationsingenieur auf den Mechatroniker trifft. Oder der Psychologe auf den IT-Experten. Wir selbst haben in der EDHEC auch sehr gute Erfahrungen damit gemacht, unsere Studenten mit diversen Firmenvertretern zusammenzubringen und auf virtuellen White Boards gemeinsam und strukturiert Innovationen durchzudenken, das ist sehr fruchtbar. Oder Sie reichern mit solchen Methoden Customer Journeys gezielt mit Daten von Außendiensten und Kundenaktivitäten an. Wo könnte für einen Kunden ein spannender Mehrwert entstehen, wenn er in welcher Situation welche Informationen hätte?
Was sind Ihre TOP-3-Empfehlungen, um erfolgreich in die Zukunft zu gehen?
Erstens gilt es, die wichtigen Veränderungstreiber besser zu identifizieren und zu bewerten. Aus meiner Sicht passiert dies im Moment zu wenig! Man reagiert zu sehr auf die akute Not und fragt sich beispielsweise, wie man Menschen wieder zum Fliegen bewegen kann. Stattdessen sollte man sich aber fragen, welche Bedürfnisse überhaupt wiederkehren und welche sich ändern werden. Wird es noch Menschen geben, die einmal im Monat zum Golf nach Florida fliegen? Und welche Einschränkungen von Dienstreisen werden auch nach der Corona-Krise noch in Kraft bleiben?
Zweitens besteht eine Hausaufgabe natürlich darin, die Robustheit eigener Ökosysteme und mögliche Ausfallrisiken zu überprüfen. Welche Supply Chains sind bedroht, weil wichtige Puzzleteile ausfallen könnten?
Und drittens ist nach wie vor der direkte Dialog mit den Kunden, aber auch mit den Lieferanten entscheidend. Beides muss sehr offen und kreativ gestaltet sein. Neue Interaktionsformen entstehen hier, die man einbeziehen sollte. Beispielsweise nutzen wir bei uns im Campus verstärkt asynchrone Formate wie Videos, Podcasts und Live Sessions auch mit wenigen Studenten, um Bedürfnisse nach Flexibilität und Produktivität zu erfüllen.
Professor Rohrbeck, wir danken Ihnen für das Gespräch!