Die Blockchain wird seriös: Industrielle Anwendungsfälle der Distributed Ledger Technologie

Blockchain gilt als eine Schlüsseltechnologie der Industrie 4.0, da sie eine durchgängig digitale Vernetzung der Wertschöpfungsketten - auch über die eigene Unternehmensgrenze hinaus - realisiert werden. Björn Froese und Irina Rona geben einen Überblick über die Anwendungsfälle.

Die Blockchain-Technologie gilt als disruptive Innovation im Rahmen der digitalen Transformation der Unternehmenswelt. Die Blockchain – oft auch als Distributed Ledger Technologie (DLT) bezeichnet - ist eine Technologie zur dezentralen und verteilten Datenhaltung, die Transaktionen in zeitlicher Reihenfolge nachvollziehbar aufzeichnen. Die Aneinanderreihung von Datenblöcke stellen Glieder in einer Kette dar, die ineinandergreifen und nicht ersetzt oder verändert werden können: Die Blockchain. Ihren Ursprung findet sie im bekanntesten Anwendungsfall, der Kryptowährung Bitcoin.

Entwicklung der Blockchain-Technologie

Auch wenn die Blockchain initial zur Programmierung von Kryptogeld wie Bitcoin geschaffen worden ist, stellt sie längst nicht nur für den Finanzsektor ein nützliches Instrument dar, sondern hat darüber hinaus schon mindestens zwei größere Innovationssprünge erlebt: Nach dem Kryptogeld kam der Einsatz sogenannter Smart Contracts hinzu, die auf der „Chain“ Vereinbarungen im Sinne einfacher Wenn-Dann-Bedingungen kodifizieren. Aktuell befinden wir uns im nächsten Zyklus, der Schaffung ganzer dezentraler Organisationen (DAOs), die auf Basis von Smart Contracts eine vollständige Governance mit einkodiert enthalten.

Das Potenzial, das hinter der Technologie steckt, überzeugt mittlerweile auch im Geschäftsumfeld. Durch die besonderen Eigenschaften wie Dezentralität, Vertrauen, Anonymität, Transparenz und Manipulationssicherheit erobert sie ein breites Spektrum neuer Anwendungsbereiche und Kooperationsmöglichkeiten. Blockchain gilt als eine Schlüsseltechnologie der Industrie 4.0, da der Einsatz besonders dort interessant ist, wo Produkte und Services, Prozesse, oder Transaktionen von verschiedenen Playern fälschungssicher nach- und zurückverfolgt werden müssen. Dadurch kann eine durchgängig digitale Vernetzung der Wertschöpfungsketten - auch über die eigene Unternehmensgrenze hinaus - realisiert werden.

Handlungsoptionen für CFOs

Für den CFO erschließen sich damit neue Handlungsoptionen in der internen Organisation seiner Abläufe, insbesondere im Rechnungswesen und Controlling. DLT ist immer dann unmittelbar von Vorteil, wenn verschiedene Parteien auf dieselben Daten zugreifen sollen. Diese Vorteile steigen mit der Größe des Netzwerks, das nicht nur die verschiedenen Abteilungen der FC-Organisation umfassen muss, sondern sich auch bestens hin zu Partnern im selben Konzern, z.B. auch Landesgesellschaften, und Geschäftspartnern aus anderen Unternehmen öffnen lässt.

Dazu müssen die Blockchains nicht öffentlich sein. Sie lassen sich für eine begrenzte Zahl an Akteuren als Club-DLT organisieren, so dass nur die Partner Zugriff auf die Ledger erhalten. Auf diese Weise können zwei Unternehmen die Geschäftsvorfälle ihrer Partnerschaft voll transparent in eine gemeinsame Blockchain buchen und bräuchten zum Beispiel keine Open-Books-Policy für die Transparenz von Umsätzen oder gar die Gründung eines Joint-Venture-Unternehmens mehr, um Vertrauen zu schaffen.

Das DLT-System selbst ermöglicht dieses Vertrauen zwischen Parteien, die ansonsten nicht zwangsläufig vertrauensvoll zusammenarbeiten, sogar unter Konkurrenten. Aus diesem Grund werden die DLT-Lösungen auch oft als „Trustless by Design“ bezeichnet: Alle Akteure haben eine programmierte Möglichkeit der Teilhabe an dem gemeinsamen Vorgehen - bis hin zur gemeinsamen Verfügung von Funds oder gar der Etablierung der Governance in dezentralen Organisationen, in denen die Akteure sich gar nicht persönlich kennen.

Anwendungsfälle im Finanzwesen

Über die FC-Prozessorganisation hinaus sind für den Finanzenbereich weitere Anwendungsfälle umgesetzt worden. Neben der Führung unterschiedlicher Ledger lassen sich auch globale Finanzströme zwischen den Landesgesellschaften auf Knopfdruck bewegen, ohne mehrere Tage zu verlieren und mehrere Banken als Intermediäre dazwischen zu schalten. Das schafft Effizienzen beim Cash-Pooling. Treuhandservices lassen sich per Escrow-Smart Contract umsetzen. Und über das Begeben von Security Tokens lässt sich eine alternative Kapitalmarktfinanzierung schaffen, bekannt geworden auch über ICOs, Initial Coin Offerings, die sich darüber hinaus auch wieder zur Beteiligung der Belegschaft eignen.

Für die Finanzierung der Supply Chain gibt es bereits etablierte Plattformen wie z.B. Marco Polo, die auch schon von der Daimler AG zur Zahlungsabsicherung von Handelsgeschäften eingesetzt worden ist. Dabei hatte die LBBW die Finanzierung und Zahlungszusage übernommen, so dass eine traditionell bürokratische Außenhandelsfinanzierung innerhalb von Minuten abgewickelt werden konnte¹.

Anwendungsfälle im Supply Chain Management

Aus Business-Sicht lässt sich die DLT aber auch zur Dokumentation der gesamten Supply-Chain einsetzen: Von der Beschaffung der Ressourcen und Vorprodukte über die Produktion bis zum Absatz und After-Sales. Dabei nimmt der Aufwand externer Regulierung ohnehin zu; aktuell mit dem Lieferkettengesetz, welches ab dem kommenden Jahr in Kraft treten wird.

Aber auch aus eigenen Nachhaltigkeitsüberlegungen gehen die Unternehmen verstärkt dazu über, die eigenen Lieferketten geschlossen zu dokumentieren und nachverfolgbar zu gestalten. Beispiele sind hier Umsetzung von Respeggt zur Nachverfolgung von Hühnereiern oder auch für „ethisch saubere Diamanten“ mit Echtheitszertifikat in der Blockchain von Everledger.

Anwendungsfälle in der Logistik

In der Logistik hat Kühne und Nagel ein Decentral Ledger zur Begleitung und Nachverfolgung der Containertransporte umgesetzt. Hierbei werden die Frachtbriefe mit wichtigen Angaben zur Sendung, wie das beglaubigte Containergewicht, einmal in einer Hyperledger abgelegt und können dann über die gesamte Transportkette von allen beteiligten Akteuren eingesehen und ggf. ergänzt werden. Dabei kommt das Unternehmen nach eigenen Angaben mittlerweile auf fast eine Million Transaktionen pro Monat.

Ein weiterer Anwendungsfall von Blockchain stellt den Einsatz in der Produktion dar. Digitalisierte Produktionsprozesse tauschen am Tag mehrere Millionen von Daten innerhalb der Wertschöpfungskette aus sowie mit beteiligten Unternehmen. Jedoch wird bislang nur ein geringer Teil der anfallenden Daten in einer vernetzten Produktion digital abgebildet.

Das Technologie Start-up Ubrich hat beispielsweise eine IT-Lösung entwickelt, die es ermöglicht Produktionsdaten besser verfügbar zu machen und für mehr Sicherheit und Transparenz im Produktionsprozess zu sorgen. Die Lösung besteht darin, dass zusätzlichen Datenbibliotheken an Sensoren in Maschinen und Produktionsanlagen angebracht werden, die es ermöglichen Produktionsdaten zu messen und auf Basis der Blockchain-Technologie verschlüsselt zu werden. Die Produktionsdaten können somit signiert und im Cloud-Backend gespeichert werden. Die verschlüsselten Produktionsdaten können für die Intralogistik eingesetzt werden, um Fertigungstoleranzen zu minimieren. Oftmals werden Komponenten in komplexen Produktionsnetzwerken aus verschieden Werken oder von mehreren Lieferanten zusammengesetzt. Somit lassen sich beispielsweise in der Automobilfertigung eine Komponente mit positiver Toleranz mit einem Bauteil mit negativer Toleranz individuell kombinieren und ausgleichen.

Auch lassen sich Produktionskapazitäten noch einmal weiter flexibilisieren und die Anlagen damit weiter kostendeckend auslasten. Sobald man seine Anlagen dezentral transparent managed, lassen sich Kapazitäten auf Marktplätzen anbieten und versteigern.

Für viele dieser Anwendungsfälle ist die automatische Erfassung von Sensordaten mit Hilfe von IoT-Tools hilfreich, um einen nahtlosen Übergang von der physischen die digitale Welt zu ermöglichen. Sobald der Übergang von der Realwirtschaftlichen Situation in das Datenabbild vollkommen zuverlässig ist, lassen sich darauf dann mit Hilfe der Smart Contracts rechtliche Verfügungen managen. Ein Zwischenschritt, der für sich genommen bereits eine industrielle Revolution auslöst, ist der Einsatz sogenannter digitaler Zwillinge, die eben genau dieses virtuelle Abbild z.B. einer Produktionsmaschine darstellen.

Anwendungsfälle des Self-Souvereign Identity Management

Auf der Ebene der Blockchain, gewissermaßen als vierter revolutionärer Schritt, der noch einmal vieles verändern wird, wird zurzeit an den Selbst-Souveränen Identitäten (Self-Sovereign Identity, SSI) gearbeitet. Die Bundesregierung lässt dafür einige Anwendungsfälle von Industriepartnern umsetzen, u.a. Verimi aus dem Telekom-Konzern. Die SSI sollen den Menschen helfen, ihre digitale Identität sicher zu managen und dabei die Souveränität über ihre Daten zurückzuerhalten. Eine Abfrage, ob ein Vertragspartner geschäftsfähig ist, kann damit an die SSI-Lösung gestellt werden, die wiederum datensparsam nur mit einem Ja oder Nein antworten muss. Dahinter verbirgt sich eine Blockchain, die etwa die Daten des Personalausweises zusammen mit einer Bestätigung einer Trusted Party verschlüsselt hält. Genauso ließe sich aber auch aus dem Handelsregistern beauskunften, ob ein Geschäftspartner das Unternehmen wirksam vertritt, sowie überhaupt alle staatlichen Register öffentlich machen.

Diese Zurechnung von eindeutigen und beweisbaren Identitäten wird aber bereits weitergedacht: Warum sollte man sie nicht im Kontext der Industrie 4.0 nutzen können? So ließen sich Maschinen vom Hersteller zertifizieren und mit einer eindeutigen Identität versehen, so dass z.B. in einem sicherheitskritischen Bereich auch nur zugelassene Ersatzteile genutzt werden können. Oder der Hersteller behält gleich das Eigentum an den Produktionsmitteln, stellt die Verfügbarkeit sicher und bietet die Produktionskapazität auf Abruf und zur Einzelabrechnung an: Cloud-Produktion.

Für den Einzelverbraucher lässt sicher der Kreis ebenfalls schließen. Sobald Lieferanten den Einkauf in eine von außen zugänglicher Kühlbox gestellt haben, werden die Items per RFID von einem verifizierten Lesegerät ausgelesen. Dieser bestätigt dann die erhaltenen Produkte und veranlasst die sofortige Zahlung über einen Smart Contract. Die Lebensmittellieferanten würden es einem Danken, können sie doch nun jederzeit liefern und müssen nicht alle Haushalte in der Peak-Time zwischen 18 und 20 Uhr beliefern.

Der CFO als Stakeholder der Transformation

Die Blockchain ist als Konzept bereits weit über die Nutzung für Kryptowährungen herausgewachsen. Es lassen sich mittlerweile hunderte von erfolgreichen Use Cases nachweisen, bei denen Distributed Ledger helfen, die Prozesse effizienter zu gestalten, Partner der Wertschöpfungskette einzubeziehen, oder aber auch vollständig neue Geschäftsmodelle zu ermöglichen. Zusammen mit der Sicherstellung von Zurechenbarkeit (virtueller) Transaktionen über die SSI, lassen sich darüber hinaus sämtliche Geschäftsvorfälle aller Unternehmen auf den Prüfstand stellen und sehr viele von ihnen komplett neu denken.

Der CFO ist dabei oft ein entscheidender Stakeholder der Transformation und kann viele diese Innovationen sogar aus seinem Bereich treiben. Zum einen, weil ohnehin eine große Affinität und Professionalität im Umgang mit Ledgern besteht und man es gewohnt ist, Unternehmensdaten prüfungsfähig vorzuhalten. Zum anderen aber auch, weil sich das Controlling mit der Digitalisierung sämtlicher Assets und Geschäftsvorfälle auch einen viel tieferer Einblick in die Werteflüsse erschließen kann.

¹ReThinking Finance, 6/2019

Glossar

Vielen Dank an Irina Rona für die Mitarbeit an diesem Artikel.