Die Corona-Krise hat einen enormen Digitalisierungsschub mit sich gebracht. Insbesondere die öffentliche Verwaltung in Deutschland war vor der Krise weit entfernt von einer digitalen (Stadt-) Verwaltung. Wie haben die Behörden auf die Krise und die damit einhergehenden Anforderungen an die Digitalisierung reagiert und welche Hürden stehen noch bevor?
So schlecht schlägt sich die öffentliche Verwaltung in der Krise nicht. Jedenfalls hält sich die Kritik an den deutschen Behörden bisher in Grenzen, sie hätten die Lage nicht im Griff. Natürlich gab es Kommunen, Länder und Behörden beim Bund, die am Anfang des Lockdowns mit Home-Office-Kapazitäten zu kämpfen hatten. Aber das sah bei vielen Unternehmen in der freien Wirtschaft nicht viel besser aus. Auch sie waren auf eine flächendeckende und lang andauernde Krise nicht vorbereitet und mussten ihre Beschäftigten ohne Vorbereitung ins Home Office schicken. Viele von ihnen hatten keine oder schlecht ausgerüstete Laptops, die Mitarbeiter kämpften zuhause teilweise mit zu geringen Bandbreiten oder setzten ihre privaten PCs, Tablets und Laptops ein. Zum Leidwesen mancher Security-Beauftragten in den Unternehmen. Doch in der Not frisst der Teufel fliegen.
NRW beschleunigt Verwaltungsdigitalisierung
Ein Positivbeispiel für Verwaltungsdigitalisierung und Homeoffice-Tauglichkeit stellt das Land Nordrhein-Westfalen dar. Das komplette Wirtschaftsministerium war ad hoc Home-Office-fähig, die gesamte Landesverwaltung mit rund 38.000 Beschäftigten ist mit Telearbeitsplätzen ausgestattet. Das hat einen guten Grund: Das Land NRW treibt die Digitalisierung der Verwaltung und Bürgerservices mit Vehemenz voran. Erst Anfang März 2020, also kurz bevor die Corona-Krise Wirtschaft und Verwaltung mit voller Wucht erreichte, hat das NRW-Kabinett ein neues E-Government-Gesetz verabschiedet, das zielweisend für ganz Deutschland sein müsste.
Statt die Digitalisierung auf die lange Bank zu schieben, will das Land die komplette Digitalisierung um sechs Jahre auf 2025 vorziehen und dafür insgesamt eine Milliarde Euro investieren – 600 Millionen Euro mehr als ursprünglich vorgesehen. Es rechne sich, wie Wirtschafts- und Digitalisierungsminister Andreas Pinkwart sagt: „Diesen Investitionen stehen erhebliche Effizienzgewinne und Einsparungen durch die Digitalisierung gegenüber, so dass diese unter dem Strich bereits im Jahr 2025 die Mehrausgaben wettmachen werden.“
Digitalisierungsstau wird sich auflösen
Trotz guter Beispiele zeigt die Krise aber: In der öffentlichen Verwaltung gibt es einen Digitalisierungsstau. Die aktuellen Erfahrungen werden jedoch erheblich zur Auflösung des Staus beitragen und für zusätzliche Dynamik sorgen. Denn in der Krise hat sich endgültig bewiesen, dass interne Prozesse und Services mit Hilfe von digitalen Lösungen weitgehend weiterlaufen können. Die Rahmenbedingungen für die digitale Verwaltung sind längst gesetzt. Mit den E-Government-Gesetzen und dem Onlinezugangsgesetz (OZG) sind die rechtlichen Grundlagen seit Jahren vorhanden. Sie gilt es jetzt konsequent umzusetzen und mit mehr Mut die Digitalisierung voranzutreiben – auch wenn anfänglich nicht jede Anwendung immer perfekt läuft.
Wie mutig insbesondere Kommunen in Sachen Digitalisierung sein können, zeigt die Entwicklung der Smart-City-Services. In Bereichen, in denen Bürgermeister ihre Städte weitgehend ohne gesetzliche Hürden digitalisieren können, sprießen die Ideen und Projekte zunehmend aus dem Boden. Autonom fahrende Busse, die ab 2021 in Innenstädten unterwegs sein sollen. Vernetzte Parksysteme, die über Sensoren belegte und freie Parkplätze erfassen und Autofahrer zum nächsten freien Parkplatz lotsen. Vernetzte Straßenlaternen, die sich automatisch an- und abschalten und gleichzeitig als Hotpots für die kostenlose WLAN-Nutzung in der Innenstadt dienen. Solche Beispiele zeigen, was mit ein wenig Mut zur Innovation möglich ist.
Mut und Pragmatismus statt Perfektion
Wie es mit mehr Mut laufen kann, zeigt auch ein im Grunde genommen unbedeutendes Ereignis im 5.500-Einwohner-Städtchen Tangerhütte in Sachsen-Anhalt. Am 22. März ging dort ein komplett digitales Rathaus online. Seitdem lassen sich alle Dienstleistungen für die Bürger digital abwickeln. Eigentlich kein so besonderes Ereignis. Trotzdem bekam diese Nachricht sogar in einem renommierten Medium wie der Süddeutschen Zeitung ein paar Zeilen spendiert. Was ungewöhnlich war an Tangerhütte: Der Bürgermeister hat angesichts der Krise die Entwicklung des Online-Portals mit Hochdruck vorangetrieben, sodass der digitale Bürgerservice weit vor dem eigentlich geplanten Termin starten konnte.
Wie die öffentliche Verwaltung mit mehr Mut und Pragmatismus statt Perfektion die Digitalisierung vorantreiben könnte, zeigen die Digitalisierungslabore, die im Rahmen des OZG gegründet werden. In diesen Digitalisierungslaboren arbeiten interaktive Teams agil an der Entwicklung von Online-Anwendungen zusammen. Im Digitalisierungslabor selbst wird kein Online-Service implementiert. Sie liefern die Blaupause digitaler Anwendungen für Länder und Kommunen samt Konzeptpaket und Umsetzungsplan. Durch Erarbeitung von Ergebnissen wie de-facto-Schnittstellenstandards wird eine wichtige Grundlage für die beschleunigte Realisierung von OZG-Anwendungen in den Bundesländern und Kommunen geschaffen.
Reallabore und Experimentierklausel
Auch Konzepte wie die Reallabore des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) zeigen in die richtige Richtung. Reallabore sollen als Testräume unter realen Bedingungen Erfahrungen mit digitalen Innovationen sammeln. Reallabore bedienen sich zu diesem Zweck des Instruments der Experimentierklauseln, mithilfe derer bestehende rechtliche Rahmenbedingungen in Abstimmung mit den jeweilig zuständigen Genehmigungsbehörden in einem zeitlich und räumlich befristeten Rahmen außer Kraft gesetzt bzw. modifiziert werden können.
Experimentierklauseln stellen ein Instrument innovativen Verwaltungshandelns dar, so der IT-Planungsrat. Sie könnten Reformprozesse anstoßen bzw. beschleunigen und zugleich starke Impulse für die Gesetzgebung setzen. „Wenn wir dem Fortschritt nicht „regulatorisch hinterherlaufen“ wollen, brauchen wir in Zukunft mehr Flexibilität und „Luft zum Atmen“, schreibt das BMWi. Ein richtiger Ansatz für mehr und schnellere Digitalisierung – nicht nur in der öffentlichen Verwaltung. Die Idee der OZG-Digitalisierungs- und Reallabore ist vergleichbar und diese beiden Instrumente könnten gemeinsam mehr Geschwindigkeit in die Digitalisierung der Verwaltung bringen, indem sie intensiveren Gebrauch von Ausnahmereglungen machen.
Bestimmte Services der Verwaltung wie Anträge auf Erstattung von Arbeitgeberaufwänden aufgrund von Angestellten in Quarantäne (§56 IfSG) seien besonders gefragt und würden in einem Express-Digitalisierungslabor für eine Online-Beantragung entwickelt, verspricht das BMI. Das Express-Digitalisierungslabor ist auch Teil der Umsetzung des Online-Zugangsgesetzes, das 575 Verwaltungsleistungen definiert, die bis Ende 2022 digital angeboten werden sollen. An der Umsetzung besonders wichtiger Leistungen arbeiten deutschlandweit 14 Digitalisierungslabore.
Agile Entwicklung mit schnellen Ergebnissen
Die Krise zeigt jedenfalls: Unter besonderen Bedingungen ist es plötzlich doch möglich, Dinge voranzutreiben, die vorher in immer wieder kehrenden Diskussionen, großer Detailverliebtheit und Suche nach Perfektion nicht zu Ende gebracht werden. So war es bis vor wenigen Jahren auch in der Softwareentwicklung. Da wurden über Monate Anforderungen ermittelt bevor in einem oft über Jahre dauernden Entwicklungsprozess die Anwendung zur Verfügung stand. Doch in diesem langen Zeitraum hatten sich die Anforderungen längst geändert. Daher scheiterten die meisten Großprojekte.
Heute dagegen werden Anwendungen in der Regel agil, flexibel und trotzdem zielführend entwickelt. Dabei geht es nicht darum, nach kurzer Zeit mit unsicheren, unausgereiften Betaversionen die Nutzer als Tester zu missbrauchen. Es geht darum, dass sich oftmals erst in der Praxis zeigt, was Nutzer einer Software tatsächlich wollen, auf welche Details auch verzichtet werden könnte und welche Funktionen eventuell noch fehlen. Ohnehin müssten Anwendungen ständig weiterentwickelt werden, zumal „die öffentliche Hand ihre Anwendungen stets auf die Nutzungsgewohnheiten der Bevölkerung anpassen muss“, wie die Herausgeber des eGovernment MONITOR 2019 schreiben.
Digitalisierung der Verwaltung beschleunigen
Unter dem aktuellen Druck wird manches schneller möglich. Dieses „einfach mal machen-Prinzip“ zieht sich wie ein roter Faden durch die Corona-Krise – nicht nur in der öffentlichen Verwaltung. Denn auch der Wirtschaft wird seit Jahren nachgesagt, sie investiere zu halbherzig in die digitale Transformation. Die Covid-19-Krise zeige, wie wichtig die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen sei, betonte Bundesinnenminister Horst Seehofer Anfang April in einer Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums. Corona hat gezeigt, dass eine Ausnahmeregelung die Digitalisierung deutlich beschleunigen kann. Um dieses Tempo beizubehalten, sollten die Digitalisierungslabore verstärkt mit dem Instrument der Reallabore verbunden werden, was rechtliche Hürden aus dem Weg räumen könnte.
Die Verwaltung wird nach Corona eine andere sein. Was bisher theoretisch diskutiert wurde, wird jetzt schneller in die Praxis umgesetzt werden. „Experimentieren lohnt sich“, ist die Botschaft. Da, wo die Verwaltung sich kurzfristig digitalisiert hat, hat sie sich als wirksames Werkzeug bewährt. Die großflächige Home-Office-Arbeit ist ein Belastungstest für die Systeme – und sie haben nach Anlaufschwierigkeiten funktioniert.
Schneller Pragmatismus kann die Digitalisierung vorantreiben. Diesen Pragmatismus gepaart mit Experimentierfreudigkeit und mehr Mut sollte sich die öffentliche Hand bewahren. Wo Freiheitsgrade da sind, lässt sich etwas bewegen und es funktioniert am Ende. Die Perfektions- und Qualitätsleidenschaft in Deutschland war immer die Basis für Erfolg. Aber die Digitalisierung verläuft in einer anderen Geschwindigkeit. Wir müssen es wagen, mehr zu experimentieren, Lösungen schneller auf die Straße zu bringen und den Feinschliff in der Praxis zu machen. So wie es in den letzten Wochen Normalität war. Ein gutes Beispiel dafür, wie es schneller gehen kann, ist die Corona-Krise.
Vielen Dank für die Mitarbeit an diesem Artikel an Felix Dinnessen.