Prof. Baumgartner: Produktentwicklungsprozesse sind zu selten strategisch aufgesetzt

Wie lässt sich Nachhaltigkeit mit der Transformation von Industrien vereinbaren? Prof. Dr. Rupert J. Baumgartner (im Bild links) und Josef-Peter Schöggl, PhD vom Institut für Systemwissenschaften, Innovations- und Nachhaltigkeitsforschung der Universität Graz plädieren für radikalere Wege in der Produktentwicklung und das Prinzip der nachhaltigen Kreislaufwirtschaft.

In den letzten Jahren hat die Diskussion zur ökologischen Nachhaltigkeit deutlich Fahrt aufgenommen, wie sehen Sie die Entwicklung gerade in der Industrie? Wurden hier Chancen vertan oder verhält sich die Adaption zu den realen Herausforderungen der notwendigen Transformation adäquat? 

Rupert Baumgartner: Die Industrie hat lange gebraucht, um das Thema ernst zu nehmen. Seit den 90er-Jahren ist klar, dass wir etwas beim Ressourcenverbrauch und dem Ausstoß von Emissionen unternehmen müssen. Es ist eine geplante Transformation erforderlich und Unternehmen spielen eine besondere Rolle. Das Nischendasein lag mitunter daran, einen entsprechenden Business-Case zu identifizieren. Die Fossil- und Stahlindustrie hat sich lange gegen den Emissionshandel gewehrt, nicht zuletzt aufgrund technischer Spezifika. Viele europäische Unternehmen spüren hohen regulatorischen Druck. So ist etwa die Idee des Circular Economy Packages nicht verhandelbar. Hinzu kommt der öffentliche Druck etwa durch Personen und Initiativen wie Greta Thunberg und Fridays for Future.

Aus meiner Sicht sollten Unternehmen erkennen, dass sich durch strategische Nachhaltigkeitsbemühungen zahlreiche Chancen ergeben werden. Wenn man Nachhaltigkeitsprinzipien im eigenen Kerngeschäft verstanden hat, können Geschäftsideen und Innovationen vorangetrieben werden. Das Interesse nimmt stetig zu, obwohl auch große Unsicherheit herrscht. Die Problematik des Greenwashings ist vorhanden. Die Unternehmen, die es ehrlich meinen und strategisch denken, können am ehesten die Transformationen mitgestalten – auch zum eigenen Vorteil.

Josef-Peter Schöggl: Wir haben dazu österreichische Unternehmen zu konkreten Ansätzen des Nachhaltigkeitsmanagement und deren Umsetzung befragt. Etwa ein Viertel hat Nachhaltigkeitsthemen, wie z. B. ökologisches Design, nachhaltiges Zulieferkettenmanagement oder Recycling unternehmensweit umgesetzt. Weiter fragten wir, inwiefern sie sich in kleineren Pilotprojekten damit beschäftigen oder Umsetzungen im Gange sind. Damit hat sich etwa die Hälfte der Unternehmen beschäftigt. Obwohl bereits zwei Drittel der österreichischen Unternehmen eine Nachhaltigkeitsstrategie definiert haben, sind umfassende, kreislaufwirtschaftsorientierte Änderungen der Geschäftsprozesse und -modelle bisher eher selten. Die meisten Themen sind Compliance- und Effizienz-getrieben. Neben der Vermeidung toxischer Stoffe, spielen etwa Produktions- und Design-Themen wie die Erhöhung der Material- oder Energieeffizienz in der Produktion oder das Schließen interner Stoffkreisläufe eine vorrangige Rolle.

Angela Merkel sagte 2020 auf dem Weltwirtschaftsforum: „Diese Transformation bedeutet im Grunde, die gesamte Art des Wirtschaftens und Lebens, wie wir es uns im Industriezeitalter angewöhnt haben, in den nächsten 30 Jahren zu verlassen … und zu völlig neuen Wertschöpfungsformen zu kommen, die natürlich auch wieder eine industrielle Produktion enthalten und die vor allem durch die Digitalisierung verändert worden sind.“ Wie bewerten Sie dieses Zitat?

Baumgartner: Mir gefällt es, weil es die Herausforderungen beschreibt. Wir müssen Industrie und Wirtschaft neu erfinden. Wir beziehen aktuell weltweit über 65 Prozent der Energie aus fossilen Quellen. In den nächsten 30 Jahren wächst die Menschheit bevölkerungsmäßig noch einmal um ganz Indien und China. Die Transformation wird nur durch zwei Wege gelingen: Entweder durch die Entkopplung des Ressourcenverbrauchs und der Umwelt- bzw. Klimabelastung durch eine neue Art des Wirtschaftens oder einen radikalen Degrowth. Ich persönlich sehe jedoch keinen Weg, wie ein radikaler Degrowth auf demokratischen Weg nur durch freiwilligen Verzicht auf unseren bisherigen Lebensstandard gelingen kann. Die zentrale Herausforderung ist die Entkopplung – raus aus fossilem Kapitalstock und die Industrieproduktion neu erfinden.

Es gibt Sektoren und Länderspezifika, wo das sehr herausfordernd ist. So Großbritannien: Wenig Produktion und viel Dienstleistungen wirken hier kohlenstoffärmer. Die Rechnung ist aber unehrlich, weil die Produktion lediglich ausgelagert ist. Zement, Stahl und Co. müssen erst einmal neu erfunden werden. Die Transformation muss zum einen technologisch gelingen und zum anderen müssen die Geschäftsmodelle und Konsumentenperspektive innovativer gestaltet werden. Von 2008 bis 2018 stieg der Gesamtstromverbrauch in Österreich um über 6 Prozent und wird durch die notwendige Elektrifizierung z.B. im Bereich der Mobilität noch stärker wachsen. Die reine Anbietertechnologie ist daher nicht ausreichend, die Effizienz der Konsumentenseite muss mitgedacht werden.

Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Es ist wichtig, Schritt für Schritt zu denken und zu handeln, oder?

Baumgartner: Das stimmt. Bei den Mitarbeiter*innen in den Unternehmen gibt es die sogenannte Paradox-Perspective. Das Wissen, dass es jetzt Transformation und radikale Veränderung braucht, aber trotzdem in den jetzigen Rahmenbedingungen eingebettet zu sein. Das bedeutet, kurzfristig Schritte in die richtige Richtung zu machen, aber dennoch nicht direkt alles lösen zu können. Die Paradoxie-Toleranz sollte in Organisationen z. B. durch den Aufbau von Know-how gefördert werden.

Sie leiten das “Christian Doppler Laboratory for Sustainable Product Management”. Wie gelingt es, etwa Sustainability-by-Design im Business Case mitzudenken? Wie kann man ein nachhaltiges Produktmanagement auch in digitalen Produkten etablieren und richtig implementieren?

Baumgartner: In unserer Forschung haben wir uns den Ist-Zustand der Produktentwicklungsprozesse aus Sicht von Nachhaltigkeit und Circular Economy angesehen. Wir waren überrascht, wie unstrategisch Produktentwicklungsprozesse gemeinhin aufgesetzt sind. Im Designprozess wird oft an bestehenden Produkten optimiert und nicht radikal von einer Strategie von Null auf neu designt. Bei der Produktentwicklung muss sich die Unternehmensleitung stärker einbinden und die Nachhaltigkeitsthemen frühzeitiger bedenken.

Schöggl: Das haben wir auch in einer anderen Studie mit Produktentwickler*innen, vornehmlich aus der europäischen Automobilindustrie, zu den Hürden bei der nachhaltigen Produktentwicklung gesehen. Neben dem Aspekt fehlenden Mehrwerts war das strategische Commitment die größte Herausforderung. Auf der operativen Ebene stellt sich die Frage der Tradeoffs, der gegenläufigen Abhängigkeit. Gerade bei komplexen Produkten ist das nicht trivial. Was kann der Designer letztendlich wirklich verändern? 

Baumgartner: Man kann das in der Produktentwicklung ziemlich gut konkretisieren: Es ist erst einmal wichtiger zu wissen, in welche nachhaltige Richtung man geht, als dass es quantifizierbar ist. Grundlegende Nachhaltigkeitsprinzipien dienen als Basis, um Kreativprozesse anzuregen. Das kann man etwa durch eine Liste mit radikalen Fragen lösen. In der Umsetzung sollten dann alle wichtigen Entscheidungsträger an Bord sein.

Kann die Digitalisierung bei nachhaltigem Produktdesign eine wichtige Position einnehmen?

Baumgartner: Da sehen wir großes Potenzial: durch digitale Technologien kann das Design-Paradoxon gelöst werden, sprich zielsichere Entscheidungen über neue Produktmerkmale, Werkstoffe oder Technologien können ohne quantifizierbare Detailkenntnisse getroffen werden. Wenn beispielsweise ähnliche Anwendungen im Fokus stehen, können schon frühzeitig wichtige Informationen in den neuen Entwicklungsprozess einfließen. Durch digitale Zwillinge oder digitale Produktpässe gibt es Datenquellen für den Design-Prozess. Zudem erlauben digitale Technologien eine bessere Simulation der Nutzungsphase. 

Es gibt derzeit einen Europa-Hype um E-Mobilität. Sie arbeiten gemeinsam mit Unternehmen an einem digitalen Produktpass für Batterien, wie zahlt das auf Nachhaltigkeit ein?

Baumgartner: Die Grundidee ist, im Produktpass alle Informationen aus Nachhaltigkeitssicht zu sammeln, die für Entscheidungen entlang des Produktlebenszyklus wichtig sind. Idealerweise enthält der Produktpass Informationen über die Herkunft von Produkt und Rohstoff, welche Materialien und Unternehmen beteiligt sind und waren. Use Cases können neben anderen Second Life oder End-of-Life sein: Wenn eine Batterie sich nicht mehr gut für ein Auto eignet, kann sie noch als stationärer Stromspeicher gut genug sein. Für Recyclingprozesse ist es etwa wichtig, welche Zellchemie im Produkt steckt. Derzeit haben wir konzeptionell die idealerweise vorhandenen Inhalte des Passes definiert. Jetzt ist die Frage, wie sich diese Informationslücken schließen lassen. Die Akteure der Lieferkette teilen nicht von allein alle Informationen, die es dafür braucht.

Sie haben sich intensiv mit „Circular Economy“ beschäftigt. Diese setzt u.a. auf Reparieren als wichtigen Schritt für längere Nutzung bzw. Nachnutzung von Assets. Eine fast verlorene Fähigkeit in Mitteleuropa. Was wären pragmatische Schritte auf dem Weg zur nachhaltigeren Kreislaufwirtschaft?

Baumgartner: Dies ist wichtig, denn Kreislaufwirtschaft bedeutet für viele noch vor allem Recycling und bessere Abfallwirtschaft. Es ist aber essenziell, erst gar nicht so viele Abfälle entstehen zu lassen. Hier spielen die längere Nutzung und die Reparatur von Produkten eine ganz wichtige Rolle. Es gibt aber eine große Diskrepanz zwischen dem, was theoretisch getan werden müsste und was getan wird. Dazu braucht es zum einen gesetzliche Regeln. Zum anderen braucht es Geschäftsmodelle, die diese fortgeschrittenen Strategien für eine Kreislaufwirtschaft realisierbar machen. Die Kombination aus (gesetzlichen) Rahmenbedingungen und unternehmerischer Kreativität ermöglicht vermehrte Nachhaltigkeit, die auch ökonomisch Sinn macht. 

Was wird aus Sicht der Unternehmen in Zukunft immer wichtiger?

Baumgartner: Durch den zunehmenden Personal- und Fachkräftemangel müssen sich Unternehmen bei Nachhaltigkeitsthemen immer mehr behaupten, damit sie für junge, kreative und gute Köpfe weiterhin attraktiv bleiben. Daher sollte ein Fokus hier auch auf die interne Personalentwicklung gesetzt werden.

Vielen Dank für das Interview! 

Das Interview führte