Otto und der Seiltaenzer

Tobias Krüger ist seit über neun Jahren in der Otto Group tätig. Hier hat er als klassischer Berater, als ‚Finance- und M&A-Guy‘, seine Karriere in der Konzernstrategie begonnen. Zum 1. Oktober 2016 wurde er vom heutigen CEO Alexander Birken mit dem Aufbau des ‚Kulturwandelprozesses‘ für die Otto Gruppe beauftragt. Daraus ist seine heutige Position des Head of Cultural Change entstanden. Im Interview mit Verena Vinke und Marc Wagner spricht er offen über den Otto Group Weg, die Spannungsfelder des Kulturwandels und warum die Buntheit und Vielfalt eines Konzerns dabei im Zentrum stehen.

Detecon: Tobias, wie definierst du deine Rolle als Division Manager Kulturwandel 4.0?

Tobias Krüger: Wichtig ist, dass die Otto Group nicht nur eine einzige Firma ist, sondern ein Konzern mit 30 wesentlichen Unternehmensgruppen. Die Unterschiedlichkeit ist die eine Herausforderung. Aber unsere größte ist die voranschreitende digitale Transformation. Um gewappnet zu sein, haben wir den Kulturwandelprozess ausgerufen. Ein ergebnisoffener Prozess, in dem wir als zentrales Kulturwandel 4.0-Team die Transformation der einzelnen Unternehmen, aber auch des gesamten Konzerns begleiten. Der Kulturwandel passiert dezentral, bei gemeinsamer Verantwortung. Die Organisationseinheiten wissen selbst am besten, was sie brauchen. Wir als Kulturwandel 4.0-Team befähigen, schaffen Transparenz und vernetzen untereinander.

Zunächst möchten wir die Unternehmen befähigen, die eigenen Veränderungsprozesse anzustoßen. Denn es gibt keinen One-fits-all-Ansatz. Wir wollen vielmehr die Buntheit und die Vielfalt des Konzerns sinnvoll nutzen. So wird jedes einzelne Unternehmen auch künftig seine eigene Unternehmenskultur haben.

Unsere weitere Aufgabe ist es, Transparenz zu schaffen. Wir schaffen über alle Phasen des Wandels, auch über unsere Arbeit mit dem Vorstand, eine größtmögliche Transparenz. Dafür stehen eine ganze Reihe an Kommunikationsformaten zur Verfügung. Zum Beispiel gibt es einen monatlichen Vodcast mit dem CEO, Infoveranstaltungen sowie die mobile Kommunikation über unsere Mitarbeiter-App OGtoGO.

Der Kern des Kulturwandels ist eine neue Art der Zusammenarbeit: Um agiler zu werden müssen wir vernetzt zusammenarbeiten und schneller Entscheidungen treffen. Wir brauchen im System mehr Zusammenarbeit, suchen aber auch die Vernetzung im Sinne des Plattform-Gedankens nach außen, zum Beispiel mit Universitäten und NGOs.

Was genau ist nach dem Wandel anders als vorher? Gibt es überhaupt ein Vorher und ein Nachher?

Nein, ein Vorher und Nachher gibt es nicht. Wir folgen der Logik eines Seiltänzers. Es geht hier um die Balance zwischen unterschiedlichen Verhaltensweisen bzw. Arten der Zusammenarbeit und Kommunikation. So haben wir gemeinsam mit der Organisation auf die Organisation geschaut und dabei festgestellt, dass wir so, wie wir zusammenarbeiten für die Herausforderungen der Digitalisierung nicht ausreichend gewappnet sind. Im Kulturwandelprozess, der seit drei Jahren läuft, haben wir im ersten Schritt erkannt, welche Veränderungen wir anstoßen, welche Werte wir erhalten wollen und wie wir hier eine Balance herstellen können. Ähnlich wie es ein Seiltänzer tut.

Ihr habt also gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Werteanalyse vorgenommen. Wie genau habt ihr das gemacht?

Wir haben unser Leitbild, den Purpose der Otto Group, nicht aus einer kleinen Gruppe aus dem Vorstand heraus aufgesetzt, sondern in einem partizipativen und offenen Prozess gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen erarbeitet. In einer groß angelegten Postkarten-Aktion und in Pop-up Stores an den unterschiedlichen Standorten des Konzerns haben wir die Kolleginnen und Kollegen u.a. befragt, worauf sie stolz sind und was ihrer Meinung nach die Otto Group ausmacht. Die Auswertung und das Verdichten der Antworten haben wir offen gestaltet und im Intranet publiziert. So haben wir Spannungsfelder identifiziert, zum Beispiel: „Wir sind eigentlich im Kern ein Hamburger Unternehmen und trotzdem haben wir einen internationalen Anspruch.“ Auch alle weiteren Schritte sind in der Unternehmensöffentlichkeit passiert, es stand jedem frei, den Prozess mitzugestalten und in den Workshops mitzuarbeiten. Am Ende der ‚Entdeckungsreise‘ ist ein gemeinsames Leitbild entstanden, in welchem sich eine Mehrzahl an Kolleginnen und Kollegen wiederfindet und für sich die Frage beantworten kann, warum es die Otto Gruppe auch in 20 Jahren noch geben wird.

Das bedeutet, dass de facto in jeder Veränderungsphase wieder die gesamte Otto Group eingebunden wurde?

Genau. Das war einer der ersten Grundsätze in der Kulturveränderung. Gemeinsam und über mehrere Monate hinweg sind wir zu unserem Purpose Together we push for limits bzw. dem Leitbild, Gemeinsam setzen wir Maßstäbe gekommen. Das Leitbild weist uns den Weg in die digitale Zukunft.

Wie schafft ihr es, das neue Selbstverständnis mit Leben zu füllen? Wie gestaltet ihr den Transfer-Prozess?

Unsere kommunikative Klammer und Orientierung ist das gemeinsame Leitbild. Den Transfer-Prozess in den einzelnen Organisationseinheiten gestalten die sogenannten LKWs – lokale Kulturwandel-Teams. Zudem gibt es begleitende Aktivitäten, zum Beispiel Workshop-Formate, in denen einzelne Teams herausfinden könnten, was der Wandel für sie bedeutet. Denn wie gesagt: DEN Kulturwandel gibt bei uns nicht. Die Gesellschaften gestalten den in ihren eigenen lokalen Kontexten. Bei EOS zum Beispiel nennt sich das Cultural Journey, in der Holding nennt sich das Team Wir@Holding. Wenn mein Team und ich alles synchronisieren würden, wären wir nur das Bottle-Neck. Wir glauben eher daran, dass in der Dezentralität die Kraft steckt, dass aus dem lokalen Kontext herausgeschaut werden muss, was man braucht. Der Fokus ist überall ein bisschen anders und das ist genau richtig so.

Alles, was du beschreibst, impliziert ja auch einen radikalen Wandel für die Führungskräfte und die Führungskultur. Wie seid ihr damit umgegangen und wie habt ihr die Führungskräfte mitgenommen?

Was genau ist nach dem Wandel anders als vorher? Gibt es überhaupt ein Vorher und ein Nachher?

Dr. Peter Gröschke

Grundvoraussetzung für gelingenden Wandel ist die Legitimation von ‚oben‘. Der Kulturwandel ist eine Herzensangelegenheit der Familie Otto. Sie tritt deshalb für die nachhaltige Umsetzung des Wandels ein, schafft als Eigentümer Rahmenbedingungen und agiert als Sponsor für den gesamten Wandel. Kulturwandel kann man nicht verordnen, dieser muss vor allem von den Führungskräften vorgelebt werden. Entsprechend hat auch der Vorstand bei sich begonnen. Seit Beginn des Prozesses trifft sich der Vorstand einmal im Monat für einen Workshop zum Thema Kulturwandel. Darüber hinaus treiben wir Herzensthemen und besondere Initiativen in interdisziplinären und hierarchieübergreifenden Arbeitsgruppen, den so genannten Workstreams. Heute erleben wir eine Gleichverteilung an Engagement - unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Betriebszugehörigkeit, Hierarchie usw. Darüber hinaus fällt auf, dass wir gar nicht auf der Ebene des Top- oder Upper-Managements wenig Aktivität erleben, sondern eher auf Ebene des Mittelmanagements. Was hat der Vorstand also gemacht? Er hat diese Gruppe eingeladen und gefragt, was sie brauchen, um aktiver zu werden. Und nicht: „Warum macht ihr das nicht? Ich fordere euch auf, aktiver zu sein etc.“. Die Botschaft war vielmehr: „Ich habe eine Beobachtung. Die teile ich nun mit euch. Und jetzt frage ich, was braucht ihr denn dafür?“

Lass uns doch einmal über Zahlen sprechen. Ich hatte in einem Interview von den Verlusten der Holding gelesen, und dass du die Empfehlung gegeben hast, neben dem Thema Kulturwandel nicht wieder tausend andere strategische Projekte anzugehen. Jetzt sind wir im Jahr 2019 angekommen. Lässt sich denn der Wandel schon in Zahlen ausdrücken?

Wir haben von Anfang an gesagt: Wir wissen nicht, wohin uns der Kulturwandel bringen wird. Deshalb machen wir auch keine Budgetaussagen. Obwohl klar ist, dass wir viel Geld investieren müssen. Und wir haben bewusst keine Zeiterfassung über den gesamten Konzern gemacht. Auf der anderen Seite haben wir selbstverständlich Elemente der Wirkungsmessung eingeführt. Da geht es aber vor allem um subjektiv erlebte Veränderungen.

Du kommst aus der Strategie, machst jetzt aber das Thema Kulturwandel. Hat sich dein Führungsstil dadurch, dass du dich jetzt mit ‚Change‘, also den vermeintlich weichen Themen beschäftigst, auch verändert?

Ich glaube, man entwickelt sich in jeder neuen Aufgabe auch persönlich weiter. Ich bin ein ganz klassischer Finance/M&A-Typ und dann kam der Vorstand mit dem Thema Kultur auf mich zu. Das habe ich zwar kognitiv verstanden, hatte aber durchaus Zweifel, ob ich hierfür die erforderlichen Soft Skills wie z.B. Empathie mitbringe. Ich musste mich also regelrecht reinkämpfen, habe dann aber auch schnell sehr viel Leidenschaft für die neuen Themen entwickelt.

Zum Abschluss noch eine Frage in Sachen Fehlerkultur: Bist du bzw. seid ihr in eurem Kulturveränderungsprozess auch einmal gescheitert und was habt ihr daraus gelernt?

Es liegt in der Natur der Dinge, dass man Fehler macht. Wichtig ist aber, den Kollegen Mut zuzusprechen, Sachen auszuprobieren, sich einzumischen, Ideen oder Innovationen auf den Tisch zu bringen. Dafür haben wir ganz verschiedene Formate entwickelt, unter anderem ein ‚Mut-Festival‘ oder ‚Fuck-Up-Nights‘. Da stellen sich Kolleginnen und Kollegen aus dem ganzen Haus bis hin zum Konzernvorstand auf die Bühne und erzählen, wie sie etwas so richtig versemmelt haben. Damit wollen wir deutlich machen: Fehler sind erlaubt.

Vielen Dank, lieber Tobias, und alles Gute für die ‚erneuerte‘ Otto Group.

 

Das Interview führten Marc Wagner und Verena Vinke.