OKRs und TPS: Denn Kultur und Strategie bedingen sich gegenseitig

Stellen Sie sich vor, der Salzgehalt unseres Körpers würde sich beim Schwimmen im Meer der Umgebung anpassen. Oder sich reduzieren, wenn wir uns in Süßwasser begeben. Salzwasser wäre trinkbar und wir würden auf hoher See nicht verdursten. Wir könnten uns jederzeit ins Süßwasser zurückziehen, unser Körper würde die gleiche Funktionalität aufrechterhalten und sich stets der Umgebung anpassen – egal, wie wechselhaft sie sein mag.

Enantiostasis ist die Fähigkeit eines offenen Systems, insbesondere eines lebenden Organismus, seine metabolischen und physiologischen Funktionen als Reaktion auf Veränderungen in einer dynamischen Umwelt zu erhalten. Geborgt aus der Biologie, beschreibt Enantiostasis auch den Wunsch vieler Führungskräfte nach einer Organisation, die sich anpasst, lernt und performant bleibt, egal wie unberechenbar und wechselhaft die Welt um sie herum sein mag. Sie haben im Wesentlichen zwei Hebel, um das Innenleben ihrer Organisation so zu gestalten, dass ihre Anpassungsfähigkeit in ihrer DNA verwurzelt wird und die Enantiostasis auch unter widrigsten Umständen erhalten bleibt: Strategie und Kultur.

Strategie bietet hierbei die formale Logik zur Erreichung der Ziele und richtet den Arbeitseinsatz der beteiligten Mitarbeiter darauf aus. Kultur wiederum spiegelt Ziele wider anhand der gelebten Werte, geteilter Annahmen, Verhaltensweisen der Menschen und ihrer Teamnormen. Beiden Dimensionen wird in der Managementliteratur hohe Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. 5,6 Millionen Treffer auf Google Scholar). Dennoch werden sie in der Praxis oft wie separate, unvereinbare Teile eines undurchsichtigen großen Ganzen betrachtet und nicht wie das zusammenhängende, dichte System, das es im Kern ist.

Wir möchten im Folgenden zwei relevante und praktikable Ansätze betrachten, die sowohl Strategie als auch Kultur greifbar machen, die Wechselwirkung zwischen ihnen beleuchten und pragmatische Ansätze zur ganzheitlichen Umsetzung offerieren.

OKRs und TPS: Das magische Duo?

OKRs (Objectives & Key Results) sind ein Instrument der strategischen Unternehmensführung, bei dem qualitative, organisationsweite Ziele (Objectives) auf messbare und konkret umsetzbare Ergebnisse von Teams heruntergebrochen werden (Key Results) – ein erfolgreich erprobter Ansatz. Zu den heutigen Anwendern gehören Unternehmen wie Microsoft, Google, Adobe, LinkedIn und Twitter. OKRs gelten sogar als Googles Wunderwaffe, um die strategischen Ausrichtung der Organisation für alle Mitarbeiter greifbar zu machen.

TPS (Team Psychological Safety) wiederum beschreibt eine Teamkultur, die eine psychologisch sichere Lernumgebung bei der Arbeit schafft. In der unternehmerischen Praxis wird TPS vom Großteil der bereits genannten üblichen Verdächtigen als zentraler Bestandteil ihrer Unternehmensstrategie gesehen. Mit TPS bietet uns die Wissenschaft ein Konzept, das unseren Blick auf einen der zentralsten Bausteine einer erfolgreichen Unternehmenskultur schärft: die Grundlage für Hochleistungsteams. Betrachten wir das Wechselspiel von OKRs und TPS, so können wir praktikable Erkenntnisse für einen umfassenden Ansatz der modernen Unternehmensführung ableiten.

Strategie und Kultur leben

Ein maßgeblicher Beweggrund für die unternehmensweite Einführung von OKRs ist häufig das Ziel, die Verständnislücke der Unternehmensstrategie auf allen Ebenen zu schließen. Das Besondere an der OKR-Methode ist dabei

  • die Partizipation und Definition aller Teams an ihrem strategischen Beitrag
  • die Transparenz über den Strategiebeitrag zwischen allen Teams
  • die Erhöhung das Verantwortungsbewusstsein von Mitarbeitern zum organisationalen Erfolg

Denn beim Anwenden von OKRs müssen Teams selbst definieren, welche qualitativen Objectives und welche quantitativen Key Results sie sich setzen. Somit hat jedes Team den Freiraum, seinen eigenen Erfahrungsschatz einzubringen und Zielsetzungen zu definieren, die sich passgenau an ihren individuellen Stärken orientieren. Gleichzeitig erhöht sich die Transparenz und mit ihr die Verantwortlichkeit, mit der Teams und ihre Mitglieder ihre selbstgeformten Ziele messbar machen und verfolgen.

Bei der Definition von OKRs steht also immer das jeweilige Team im Fokus. Google identifizierte im Rahmen des großangelegten Forschungsprojektes Aristoteles fünf Faktoren für Teameffektivität – die Bausteine von High Performing Teams:

  1. Psychologische Sicherheit
  2. Zuverlässigkeit der Teammitglieder
  3. Struktur und Klarheit über Ziele und Rollenverteilungen
  4. Bedeutung der eigenen Arbeit
  5. Einfluss des eignen Handelns

Klar definierte, von den Teams selbst festgelegte OKRs zahlen unmittelbar auf mehrere dieser Dimensionen ein. Allen voran schaffen sie Struktur und Klarheit innerhalb und zwischen den Teams über ihre kurz- und langfristigen Ziele. Eine Sonderstellung kommt dem Faktor Psychologische Sicherheit zu, da dieser neben den vier weiteren Aspekten in den gängigen Studien nicht nur der stärkste Prädiktor für High Performing Teams ist, sondern sogar die Voraussetzung! Fehlt diese kulturelle Grundlage, sind auch alle anderen Rahmenbedingungen wirkungslos.

Aus der Praxis (I): Miro

Eine Organisation, die das Zusammenspiel von TPS und OKRs aktiv lebt, ist Miro. Gestartet als Startup hat die Firma nun über 100 Mitarbeitende auf allen Kontinenten. Miro war es wichtig, während der schnellen Wachstumsphase die Integrität der Entscheidungsfindung zu bewahren. Seitdem die Firma die Mitarbeiterzahl von 30 überschritten hat, wurde konstruktiv evaluiert, wie sichergestellt werden kann, dass die Teams nicht den Fokus verlieren und effektiv bleiben. Die Firma stellte für sich fest, dass Vertrauen die Grundlage eines eng zusammenarbeitenden Teams ist. Keine neue Erkenntnis, doch sie räumte ihr mit einer bemerkenswerten Konsequenz Priorität ein. In der Folge wurden Maßnahmen etabliert, um die Zusammenarbeit der Teams zu stärken. Dabei stand im Vordergrund, sich gegenseitig wertschätzend kennenzulernen und somit die Grundlage für eine bessere interne Kommunikation zu legen. Resultierende Leitlinien, die insbesondere durch die Führungsriege gelebt werden sollen, sind beispielsweise:

  • Raum für Persönliches schaffen: Im Team bieten Führungspersonen gezielt Möglichkeiten, dass ein Mitarbeiter Persönliches teilen kann und somit als „ganze“ Person, privat und professionell, voll in Erscheinung tritt. Eine Verhaltensform, falls von der Führung vorgelebt, die nachweislich TPS stärken kann.
  • Zufällige Begegnungen, damit sich das ganze Team austauscht: Teambuilding-Aktivitäten bieten die Möglichkeit, dass Menschen miteinander Zeit verbringen und sich über Herausforderungen fernab des Arbeitskontextes austauschen.
  • Allumfassendes, konstruktives Feedback: Es wird nacheinander jedes Teammitglied konstruktiv besprochen. Jeder Kollege benennt, welchen Beitrag ein jeweiliger Kollege zu einem Endergebnis beigetragen hat. Zusätzlich werden bei den KollegInnen Bereiche genannt, bei denen Wachstumspotenziale gesehen werden.

Dies sind einige Wege, die Miro nutzt, um die Empathie der Teammitglieder zu stärken und einen fruchtbaren Boden für TPS zu bereiten. Des Weiteren ist es ihnen wichtig, dass die organisationalen Kernwerte wirklich gelebt werden. OKRs helfen Miro dabei, den Team-Zusammenhalt zu stärken sowie die zentralen Prioritäten zu besprechen und an alle Mitarbeiter zu kommunizieren.

Aus der Praxis (II): WorkDay

Ein weiteres Beispiel zeigt die Firma WorkDay auf. Aus ihrer Sicht stellen heutzutage nicht mehr einzelne Individuen, sondern nur gut funktionierende Teams die entscheidende, wertschöpfende Kraft für Unternehmen, die wachsen wollen. Also sah sich WorkDay, eine Firma mit mehreren tausend Mitarbeitern, vor der Herausforderung, die hauseigene Strategie auf einem breiten Level an die gesamte Belegschaft zu kommunizieren. Dazu nutzt WorkDay die OKR-Methodik. Durch OKRs werden die Teams befähigt, die strategischen Organisationsziele auf ihrem jeweiligen Level umzusetzen. Dadurch gewinnt die Firma an strategischem Abgleich innerhalb der Organisation, denn die Teams haben ein klares Verständnis darüber, was sie erreichen wollen und sollen. Und dies nur durch offene Diskussionen im Team – TPS at its best.

Um die OKR-Initiative innerhalb einer großen Firma zu managen nutzt WorkDay für das OKR-Tracking eine digitale Lösung, mit der kollaborativ gearbeitet und der Fortschritt verfolgt werden kann. Das Fazit von WorkDay: Der Austausch rund um OKRs stärkt die Teams, was zu guten OKRs führt. Und das wiederum hilft dem Unternehmen, seine Strategie umzusetzen.

OKRs & TPS: Let’s play them together!

Beide Beispiele zeigen auf, welche konkreten Maßnahmen Unternehmen ergreifen können, damit sie sowohl Strategie als auch Kultur gleichermaßen nutzen, um ihren Weg hin zu einer anpassungsfähigen Organisation zu ebnen. TPS bereitet hierbei die Grundlage der empathischen und respektvollen Zusammenarbeit und OKRs helfen wiederum, die Strategie zu operationalisieren und für die Mitarbeiter greifbar zu machen.

Fehlt in einer Organisation jedoch die Vertrauensgrundlage, werden die Bestrebungen, OKRs einzuführen, im Keim erstickt, da bereits die notwendige Voraussetzung – ein offener und kritischer interner Diskurs über die genaue Definition der OKRs – ohne einen sicheren Raum im Team nicht gewährleistet ist. Umgekehrt wird es allerdings ebenso schwer, TPS und die damit einhergehende erlebte Kultur zu etablieren, wenn diese Dimension in der strategischen Ausrichtung der Organisation keinerlei Berücksichtigung findet. TPS und OKRs – Kultur und Strategie – bedingen sich also gegenseitig.

Dieses Wechselspiel lässt sich über die Grenzen des Offensichtlichen hinaus weiterdenken und bietet Raum, geschickte Symbiosen zu bilden. OKRs schaffen nicht nur Transparenz im Team sondern innerhalb der gesamten Organisation. Mitarbeiter aus verschiedenen Teams können die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit im Abgleich mit ihren KRs selbst bewerten und folgen einer klaren, übergeordneten Vision, die sich in den teamübergreifenden Objectives manifestiert. Sie haben somit ein unverstelltes Bild auf die Prioritäten der eigenen Organisation. Ist die Stärkung der Vertrauenskultur eine von ihnen? Gemessen an der Relevanz für den Erfolg der OKRs ergibt dies durchaus Sinn. Mit TPS haben Organisationen nun auch erstmals ein Konzept in der Hand, welches ihnen den Blick auf ebendiese erfolgskritische Kultur schärft und messbar macht.

Während OKRs die klare Sicht auf das Innenleben der Organisation eröffnen, helfen gezielte Maßnahmen zur Stärkung von TPS den Mitgliedern der Organisation, sich auf den neuen Führungsrahmen einzustellen und ihn konstruktiv zu gestalten. Damit helfen beide Konzepte, sich auf dynamische Entwicklungen in der Geschäftswelt einzustellen. Die perfekte Enantiostasis im organisationalen Kontext.

Autor dieses Artikels ist unser Alumnus Daniel Drexler.