Langfristiger Erfolg ist zwar wünschenswert, birgt aber auch seine Gefahren. Erfolgreiche Unternehmen übersehen nicht selten die Zeichen der Zeit und halten an Bewährtem fest, während sich die Welt längst weiterdreht. Warum etwas verändern, wenn’s läuft? Ambidextrie versucht dieser Kultur der Selbstzufriedenheit etwas Positives abzuringen und Innovation und „Weiter so“ miteinander zu versöhnen. Für ein starkes und effizientes Kerngeschäft, das neue Geschäftsfelder und innovative Produkte fördert.
Jahresumsätze von fast 20 Milliarden US-Dollar, Technologie-Pionier, Vorreiter im Bereich Marketing, Monopolstellung auf dem Markt für Fotofilme – Kodak war das Google seiner Zeit. Zwanzig Jahre später stand der US-Konzern auf einmal vor dem wirtschaftlichen Kollaps und meldete 2012 Insolvenz an. Was war passiert?
Der Anfang vom Ende
Mit dem Aufkommen der Digitalkamera wurde die analoge Fotografie innerhalb weniger Jahre zu einem Auslaufmodell. Kodak erkennt zwar frühzeitig die Marktentwicklung und antwortet mit der ersten Digitalkamera, verpasst aber dennoch den Anschluss. Das Produkt des Unternehmens stimmte, aber seine Organisation, also die Struktur, die Prozesse, die Kultur und das Mindset der Mitarbeitenden, wurde nicht den Veränderungen entsprechend weiterentwickelt. Kurzum: Kodak war in der sogenannten Kompetenzfalle gefangen. Das erprobte Geschäftsmodell, die robusten Strukturen, die bewährten Kompetenzen, all das hatte eine nahezu hypnotische Macht, auch auf die Geschäftsführer von Kodak. Abschöpfen hieß die Devise. Exploitation, die Verbesserung der Effizienz des operativen Geschäfts, um jeden Preis. Was dagegen fehlte, war die Lust auf Exploration, die Offenheit gegenüber Neuem, ein Gespür für die Bedeutung des Wandels und ein Bewusstsein dafür, dass dieser zwingend notwendig ist – auch und im Zweifel genau dann, wenn der Erfolg am größten ist.
Kodak war zu jener Zeit, den Goldgräberjahren der Digitalisierung, mit dieser Herausforderung nicht allein: Nokia, Blackberry, Blockbuster oder Yahoo! – alle waren sie einst Marktführer auf ihrem Gebiet. Und alle verschliefen sie entscheidende Marktentwicklungen in ihrem festen Glauben an das Kerngeschäft.
Doch was tun im Angesicht disruptiver Technologien und Geschäftsmodelle? Ist der nächste Kodak-Fall vorprogrammiert?
Alles eine Frage der Balance
Ein Ausweg aus der Kompetenzfalle bietet das Konzept der Ambidextrie. Entlehnt aus der Medizin bedeutet Ambidextrie „Beidhändigkeit“ und meint damit Unternehmen, die in der Lage sind:
- einerseits vorhandene Ressourcen einzusetzen, um das Kerngeschäft im Sinne der Liquiditätssicherung zu maximieren („Exploit“) und
- anderseits danach zu streben, neues Wissen und Kompetenzen zu erschließen, um innovative Geschäftsmodelle voranzutreiben („Explore“).
Ambidextrie steht damit für einen produktiven Kompromiss, der Hergebrachtes und Neues miteinander vereint. Entscheidend ist dabei die richtige Balance zwischen Gegenwart und Zukunft. Denn setzt ein Unternehmen nur auf Zukunftsthemen und vernachlässigt Bereiche, die solchen Ambitionen die notwendige wirtschaftliche Grundlage geben, sind auch Probleme absehbar: die sogenannte Innovationsfalle. Wie ein solches beidhändig gestütztes Gleichgewicht aussehen kann, zeigt die beeindruckende Geschichte des japanischen Unternehmens Fujifilm.
Raus aus der Kompetenzfalle
Jahrelang der Underdog im Schatten der schwindelerregenden Verkaufszahlen von Kodak, ist Fujifilm gestärkt aus den radikalen Marktveränderungen nach der Jahrtausendwende hervorgegangen. Warum? Weil sie die richtige Balance aus Exploitation und Exploration fanden.
Genau wie Kodak erkannte auch Fujifilm den sich dramatisch verändernden Markt frühzeitig, leitete daraus aber andere Entscheidungen ab. Die Japaner hielten zwar am bestehenden Geschäftsmodell fest, investierten aber gleichzeitig in neue Technologien und Geschäftsbereiche. Die Verantwortlichen von Fujifilm taten damit genau das, was die Entscheider bei Kodak versäumten. Sie hatten den Mut, ihr eigenes Geschäftsmodell in Frage zu stellen und den Blick gleichzeitig in die Zukunft zu werfen. Dabei waren drei Fragen elementar:
- Wie können wir unsere bestehenden Fähigkeiten und Kompetenzen einsetzen, um erfolgreich neue Marktsegmente zu erschließen?
- Inwiefern ist es möglich, durch die Anpassung und Weiterentwicklung unserer Kernkompetenzen, unser traditionelles Geschäftsmodell zu revitalisieren und an die veränderten Marktanforderungen anzupassen?
- Welche Strategien ermöglichen es uns, in vollkommen neue Märkte vorzudringen, indem wir innovative Fähigkeiten entwickeln oder akquirieren, die über unser aktuelles Geschäftsmodell hinausgehen?
Das dahinterstehende Mindset erkennt man am Zitat eines Fujifilm-Managers: „Während sich der Druckmarkt veränderte und der Filmmarkt sich weiter auflöste, mussten wir uns neu orientieren.” (Digital Imaging Reporter, 2012). Verändert sich die Umwelt, muss sich zwangsläufig auch das Unternehmen anpassen.
Fujifilm nutzte den radikalen Wandel im Fotografie-Markt, um seine Identität, die Art und Weise des Arbeitens neu zu definieren und seine Produkte und Services sowie die Umsetzung seiner Vision zu überdenken. Die Unternehmensleitung erkannte, dass der Fokus auf Fotodrucke und preiswerte Digitalkameras auf lange Sicht wenig Profitabilität verspricht und die Zukunft des Unternehmens in der Produktion chemischer Produkte und damit im Healthcare-Bereich liegt. Fujifilm, im Gegensatz zu Kodak, nutze die bestehenden Potenziale, um sich weiter zu diversifizieren und eine Balance zwischen Kerngeschäft und neuen Märkten herzustellen. Während Fujifilm mit Hilfe von Ambidextrie den Sprung ins digitale Zeitalter eindrucksvoll meisterte, muss sich Kodak den Vorwurf gefallen lassen, zu spät beziehungsweise nicht konsequent genug gehandelt zu haben.
In Summe wirkt die Geschichte von Eastman Kodak und Fujifilm wie ein Lehrstück über die Wichtigkeit von Ambidextrie im Hinblick auf die Sicherung der Zukunftsfähigkeit von Unternehmen:
- Wer sich seiner Sache zu sicher ist und auch im Angesicht rasanter Veränderungen sein Geschäftsmodell nicht in hinterfragt, stellt seine eigene Existenz aufs Spiel.
- Das Erschließen neuer geschäftlicher Potentiale muss im Einklang mit dem Erhalt des Kerngeschäfts geschehen.
- Dafür ist ein entsprechendes, von oben gelebtes Mindset unerlässlich, welches den notwendigen umfassenden Wandel im Unternehmen erst möglich macht.
Das gilt heute, wo die vierte Welle der Digitalisierung mit der breiten Nutzung künstlicher Intelligenz und deren Möglichkeiten für die Automatisierung von Aufgaben und Prozessen über uns hereinbricht, mehr denn je.
Führungskräfte in der Verantwortung
Ambidextrie bedeutet, dass ein Unternehmen sowohl in der Lage ist, neue Wege zu gehen, als auch bestehende Stärken zum eigenen Vorteil zu nutzen. Dies stellt erhöhte Anforderungen an die Führung. Top-Management wie Führungskräfte müssen einerseits Mitarbeitende ermutigen, neue Ideen zu entwickeln und Risiken einzugehen, andererseits aber auch die Stabilität und den Erfolg des Unternehmens über alle Organisationseinheiten hinweg sicherstellen. Eine ambidextre, beidhändige Führung schafft es, dieses Spannungsfeld und damit verbundene Unsicherheiten zwischen Exploitation und Exploration auszuhalten und im Sinne des Unternehmens produktiv zu nutzen.
Wie konsequent ein solcher Führungsstil gelebt wird, ist in der Praxis häufig typabhängig. Nicht alle Führungskräfte sind in gleicher Weise auf Change Management oder das Ermöglichen von Innovationen bedacht. Manche sehen ihre Stärken eher im Festigen bekannter Wege. Selbst, wenn Führungskräfte in ihrem Alltag schon beide Aspekte ambidextren Handelns berücksichtigen, tun sie dies meist nicht in gleichwertiger Weise. Es bedarf einer Balance zwischen den beiden Polen. Führungskräfte können mit der richtigen Begleitung lernen, sich dessen bewusst zu werden und darauf zu achten, dass Ambidextrie im eigenen Wirkungsbereich gelebt und in die Praxis gebracht wird. Dies kann aber auch bedeuten, dass sich der Führungsstil und die Arbeitsweise der Führungskraft sowie die Zusammenarbeit im Team verändern muss.
Auf dem Weg zur ambidextren Führung
Die Umsetzung von Ambidextrie kann entlang unterschiedlicher Kriterien analysiert und gestaltet werden, für die sich jeweils Ausprägungen im „Explore“- und „Exploit“-Bereich finden lassen (siehe Abbildung 2). Betrachtet man beispielsweise die Fehlerkultur, werden die Unterschiede zwischen beiden Extremen deutlich: In einer „Exploit“-Umwelt geht es vor allem um Perfektion und Kontrolle und damit die Vermeidung von Fehlern. In der „Explore“-Umwelt werden Fehler als Teil des Lernprozesses betrachtet und Mitarbeitenden wird mit einem großen Vertrauensvorschuss begegnet. Ambidextrie bedeutet, in den richtigen Umwelten zwischen beiden Extremen flexibel wechseln zu können und zu entscheiden, welche Ausprägung am besten passt.
Quellen: O’Reilly & Tushman (2016). Lead and Disrupt: How to Solve the Innovator's Dilemma