Die Erschütterung der alten Macht: Erneuerung durch Company Rebuilding

Was ist los in den Top-Etagen deutscher Unternehmen? Die Vorstände reisen durch die Technologie-Mekkas dieser Welt, gründen Ideen-Labore, ziehen ihre Krawatten aus, geben ihre Einzelbüros auf, lassen Hollywoodschaukeln in ihre Open-Space-Büros hängen – und verzweifeln immer wieder daran, dass selbst kleinste Innovationsversuche in den Weiten ihrer starren Organisation stecken bleiben. Denn sie wissen es doch ganz genau: Geschäftsmodelle, die über Jahrzehnte nahezu unantastbar schienen und hohe Margen abwarfen, werden durch neue, häufig kleine und junge Unternehmen auf den Kopf gestellt.

Markteintrittsbarrieren, insbesondere die technologischen, verschwinden nahezu vollständig. Technologie ist frei verfügbar und wartet darauf, für die Disruption des nächsten Marktes genutzt zu werden. Alles nicht neu. Dennoch sehen deutsche Unternehmenslenker immer noch mit weit aufgerissenen Augen zu, wie täglich neue Startup-Piranhas das eigene Dinosaurier-Unternehmen attackieren. Warum schaffen es die „Großen“ trotzdem nicht, auf all das sinnvoll zu reagieren und sich zu erneuern?

Und die noch wichtigere Frage: Was ist zu tun, um die Agilitätskiller im Unternehmen, wie Hierarchien, Prozesse, Kontrollsysteme und Scharen an Managern, aufzubrechen, um stattdessen eine Innovationskultur zu schaffen?

Die Antwort: Company Rebuilding

‚Company‘ was? Neues Buzzword, neues Glück? Mitnichten! Der Company-Rebuilding-Ansatz basiert auf dem Prinzip der Zellteilung, bei dem das organisatorische Wachstum organisch wie anorganisch über Plattformen gesteuert wird. Diese steuern das kommunikative Zusammenspiel und die Wertschöpfung und liefern damit die Grundlage für die Erschaffung neuer, transformationaler Produkte.

Alle Einheiten dieses neu geschaffenen Ökosystems orientieren sich dabei an einer klar formulierten Vision (Purpose), die auf einen spezifischen Kundenwert einzahlt und das Potenzial besitzt, transformationale Produkte hervorzubringen. Dieser Purpose dient dabei als Magnet für neue Partner und Stakeholder im Wertschöpfungsprozess.

Entscheidend ist dabei, dass bei der Schaffung neuer Einheiten bzw. Zellen klare Regeln der organisatorischen Zusammenarbeit, ein gemeinsames Wertegerüst sowie insbesondere Regeln für die Bildung neuer Zellen übertragen werden. Dabei tragen alle organisch geschaffenen Einheiten quasi ein- und dieselbe DNA, die in der Doppelhelix Kunden und Mitarbeiter gleichermaßen im Auge hat und sicherstellt, dass jegliche Art von nicht-wertschöpfenden Strukturen und Aktivitäten unmittelbar beseitigt werden.

Die Agenda heißt: In sieben Schritten in die Zukunft

Früher galt die Regel: Versuche schnellstmöglich einen hohen Marktanteil zu erreichen und dabei insbesondere schiere Größe (an Mitarbeitern, Assets etc.) als Markteintrittsbarriere aufzubauen, z.B. im Automobil-, Banken- oder Maschinenbau-Sektor. Die Größe wurde dabei entweder organisch (durch den Aufbau von Assets und Workforce) oder anorganisch (durch Aufkauf) erzeugt, wobei nach z.B. einer Studie von KPMG 80% der PMI-Prozesse gescheitert sind. Die organisatorische Größe geht dabei ab einem bestimmten Punkt einher mit der Schaffung erforderlicher Strukturelemente: formale und dokumentierte Prozesse entstehen, Abteilungen für deren Einhaltung werden geschaffen, die Anzahl an Managern übersteigt plötzlich die der Leader, die entweder zu Managern mutieren oder das Unternehmen verlassen - die Lehmschicht baut sich auf. Doch dies hat sich grundlegend geändert. Schauen wir uns einmal die Entstehung einer idealtypisch erfolgreichen Organisation im digitalen Zeitalter an.

Schritt 1: Der Nukleus

Im ersten Schritt ist es entscheidend, dass die Unternehmenslenker einen ausreichenden Handlungsdruck verspüren, den Weg mit Fokus und Beharrlichkeit zu gehen und den neu zu schaffenden Nukleus vor dem ‚Unternehmens-Immunsystem‘ zu schützen. Den Startpunkt bildet dabei zunächst das Recruiting des Nukleus-Teams. Dieses Team ist entscheidend für den weiteren Erfolg – nicht ein schon vorgefertigtes Business Modell oder ein Projektplan. Der Nukleus bildet sich aus einem Gründerteam und Experten, welche die Umsetzung erster Produkte und Prototypen ermöglichen. Ganz entscheidend ist hier, dass der Nukleus ein heterogenes Team aufweist und den Kriterien eines High-Performing-Teams nach Henley entspricht - und damit genau nicht denen von klassischen Management Assessments.

Schritt 2: Klare Vision formulieren

Hat sich dieses Team um eine Vision/Idee herum gebildet, gilt es, die Vision zu formulieren und mit einem konkreten Kundennutzen zu hinterlegen. Dies ist quasi die Geburtsstunde eines neuen Ökosystems. An dieser Stelle bietet es sich an, auf einen ‚Ecosystem Canvas‘, oder ähnliche Tools, zurückzugreifen. Dabei ist ganz entscheidend, den spezifischen Nutzen so attraktiv herauszuarbeiten, dass dieser zum Anziehungspunkt für weitere Wertschöpfungspartner wie Kunden, Talente und Top-Experten wird.

Schritt 3: Ein Dream Team bilden

Aus diesen bildet sich ein „Dream Team der Besten“. Denn nur so wird es gelingen, in einer „The Winner takes it all“-Economy zu überleben. Die Organisation dieser Einheiten erfolgt dann über entsprechende digitale Plattformen. Gerne wird hier neidvoll in Richtung Startups geschielt, die scheinbar unbeschwert und ohne Ballast mit ihren Ideen auf den Markt kommen und vor Agilität nur so strotzen. Dass dies nur der Eisberg ist und 99% aller Startups scheitern, wird hier gerne übersehen. Dabei verfügen gerade Konzerne und etablierte Unternehmen an dieser Stelle über etwas, was den Neugründungen fehlt oder zu einem hohen Preis (= Anteile) erworben werden muss: Ressourcen! Und hier ist nicht von Geld die Rede, sondern insbesondere auch von Umsetzungserfahrungen und Fähigkeiten, die erforderlich sind, um aus der Idee ein vom Kunden akzeptiertes Produkt zu generieren.

Schritt 4: In der Regel liegt die Kraft

Ein wichtiger Schritt bei der Bildung des Nukleus und dem Aufbau der Organisation besteht nun darin, klare Regeln für das weitere Wachstum festzulegen – der Einstieg in einen organisatorischen Blue-Print der Zelle. Dies betrifft insbesondere Themen wie

  • Unternehmenskultur & Werte
  • Organisationsstrukturen, die sich an New Work Prinzipien orientieren
  • Klare Kommunikationswege & Regeln der Zusammenarbeit innerhalb einer Einheit und mit Stakeholdern außerhalb der Einheit
  • Kontrollmechanismen, die regelmäßig Mitarbeiter- oder Kundennutzen überprüfen. Und sollten diese nicht vorliegen: ein klarer Prozess zum Abmanagen. Zero Overhead ist hier das klare Ziel.

Lassen Sie sich dabei nicht von den vielen Organisationsansätzen, wie z.B. Holocracy, täuschen, die von demokratischen Strukturen ohne jegliches Regelwerk schwärmen. Ohne klare Regeln endet die Zusammenarbeit gerade hier oft im Chaos.

Schritt 5: Die organisatorische Aufteilung

Es ist ganz wesentlich, klar zu definieren, ab welchem Punkt die organisatorische Aufteilung (Company Rebuilding) erfolgen soll. Dabei bieten sich nach unserer Erfahrung und nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen u.a. folgende Regeln an:

  • Eine quantitative Bildungsregel, bei der wir uns insbesondere auf den Erkenntnissen des Anthropologen Dunbar orientieren. Diese besagt, dass sozial stabile Beziehungen und Interaktionen auf eine Zahl von etwa 150 Interaktionspartnern limitiert sind.
  • Eine kundenorientiert-anlassbezogene Bildungsregel, bei der sich neue Einheiten um einen neuen Kundenbedarf herum bilden und entsprechend individuell ausprägen - bis dann eine entsprechende Komplexitätsgrenze erreicht ist, die dann eine quantitative Teilung erfordert.

Entscheidend ist, dass dieser organisatorische Blue-Print bei jedem Teilungsprozess übertragen wird und den gemeinsamen Nenner aller organisch gewachsenen Einheiten bildet.

Schritt 6: Konkrete Ausprägung der Einheiten

Die konkrete Ausprägung der jeweiligen Einheit erfolgt dann – analog biologischer Zellen – angepasst an das jeweilige Umfeld. So wird sichergestellt, dass z.B. lokale Gegebenheiten oder spezifische Kundenbedarfe berücksichtigt werden und nicht nach dem Gießkannenprinzip suboptimale Angebote durch die Konzernzentrale vorgegeben werden. Der zentrale McDonalds-Ansatz hat beispielsweise dazu geführt, dass KFC in China die Pole Position eingenommen hat, da sich diese auf die lokalen Essgewohnheiten eingestellt haben.

Schritt 7: Rückkopplung

Allen organisch gewachsenen Einheiten ist dabei gemein, dass diese regelmäßig  relevante Veränderungen des Marktes zurückmelden, um im Zweifelsfall eine Anpassung der Vision herbeizuführen. „Embrace change“, so Jack Ma, ist die einzige Konstante. Die Zeiten der klassischen Visions- und Strategieentwicklung für die nächsten 10 Jahre sind vorbei und bedürfen regelmäßiger Rückkopplung.

Fazit: Mut und Beharrlichkeit sind die Gebote der Stunde

Die Formulierung von Prognosen für die Zukunft fällt immer schwerer und die Rezepte der Vergangenheit haben keinen Wert mehr. Deshalb ist auch ein Company Rebuilding eine Geschichte mit unbekanntem Ende. Eine Reise mit unbekanntem Ziel. Sie erfordert viel Mut zur Veränderung - und Lust am Reisen.

Aber wie schon zuvor erwähnt, verfügen Konzerne und große Unternehmen über einen unschätzbaren Startvorteil gegenüber den gefürchteten Startups: Erfahrungswissen sowie finanzielle und personelle Ressourcen. Und das ist deutlich mehr wert, als eine Hollywoodschaukel im Open-Space-Büro.

Vielen Dank für die Mitarbeit an diesem Artikel an Marc Wagner und Lars Attmer.