Auf der Suche nach dem Next Normal

Kalifornien hat schon am 19. März 2020 eine strengere Ausgangssperre als Deutschland verhängt. Seitdem darf nur das Haus verlassen, wer einen wichtigen Grund hat. Bis auf wenige ‚systemrelevante‘ Ausnahmen sind auch alle Büros geschlossen. Wie sich dies auf die Unternehmen und Beschäftigten auswirkt, erlebt der Büroleiter und Managing Partner Stefan Wilhelm unmittelbar vor Ort  in der San Francisco Bay Area.

Detecon: Herr Wilhelm, Sie leben seit drei Jahren mit Ihrer Familie in San Francisco. Wie geht es ihnen und wie gehen die Menschen in der Bay Area mit der Ausgangssperre um?

Stefan Wilhelm: Uns geht es gut. Meine Frau ist Lehrerin und macht ihren Job im Moment aus unserer Küche. Unsere Kinder gehen wie gehabt morgens in die Schule. Allerdings digital mit Computer und Videokonferenz aus ihren Zimmern. Wir haben ständig 4 Videostreams parallel laufen. Und ich berate unsere Kunden virtuell. Wer auf die Straße geht, trägt eine Maske und alle halten sich sehr strikt an die Regeln. Kalifornien hat früh reagiert, auf 40 Millionen Einwohner kommen bisher ca. 700 Covid-19 Tote (Stand 12.4.). Die Läden sind teilweise mit Brettern zugenagelt. Das liegt auch daran, dass die sozialen Sicherungssysteme nicht mit Europa vergleichbar sind.

Die Schule läuft ganz normal weiter?

Nach dem Shut-down haben die Schulen sofort Google Classrooms eingerichtet. Der Unterricht läuft mit Google Meet für die jeweilige Unterrichtsstunde „normal“ weiter. Darüber gab es auch keine Diskussion und inzwischen steht fest, dass die Schulen bis August geschlossen bleiben. Meine Frau hat sich zwei Scheinwerfer in die Küche gestellt und unterrichtet ihre Klasse auch mit Unterstützung von Google Classroom. Und das funktioniert sehr gut. Die Schüler arbeiten wie live in der Schule, melden sich bei Fragen. Es gibt Breakout-Sessions in kleinen Gruppen. Sie bearbeiten Aufgaben online. Ein Chromebook für $249 ist ausreichend, um am Unterricht teilzunehmen.

Aber das Beratungsgeschäft liegt doch wahrscheinlich am Boden?

Wir konzentrieren uns derzeit auf unsere bestehende Kundenbasis und die Projekte laufen remote weiter. Manche Themen sind derzeit natürlich stärker gefragt. Wir beraten die Unternehmen in drei Bereichen. Erstens bei Fragen der Konnektivität. Dies läuft nach wie vor gut, da Konnektivität für die Unternehmen gerade jetzt alles bedeutet. Zweitens arbeiten wir zusammen mit einem Partner weiter an OKR-Themen (Objectives und Key Results), also Methoden der agilen Steuerung. Dies läuft auch gut, da die Unternehmen OKRs gerade in der Krise stark nutzen, um ihre verteilten Teams zu synchronisieren und auf Resultate zu fokussieren. Nur unser dritter Schwerpunkt Innovationsmanagement liegt im Moment ziemlich brach. Es ist Krisenmodus angesagt und da es um Business Continuity und das nackte Überleben geht, spielen strategisch langfristige Themen verständlicherweise derzeit weniger eine Rolle.

Sie sagen, es geht um das nackte Überleben. Auch im Silicon Valley?

Im Silicon Valley sind die Unternehmen sehr unterschiedlich betroffen. Es gibt Big Tech, also Google, Apple etc., die hohe Rücklagen haben und die Leute zusammenhalten, oder sogar Mitarbeiter aufbauen. Die Firmen der Share Economy wie WeWork oder Airbnb dagegen sind schwerer getroffen, verdienen kaum mehr Geld und versuchen, an frisches Kapital zu kommen. Und für die Tausenden von Start-ups, die von Venture Capital leben und in der Regel nur für ein paar Monate Geld haben, ist die nächste Finanzierungsrunde jetzt sehr schwierig. Alle versuchen, ihre Liquidität – also den Cash Runway - zu verlängern, indem sie massiv sparen und schnell Mitarbeiter abbauen. Auch große Firmen wie Facebook oder Google verzeichnen Einbußen bei den Werbeeinnahmen, haben aber steigende Kosten für Infrastruktur, da ihre Nutzer gerade jetzt massiv auf Social-Media-Kanälen, per Video und insgesamt online unterwegs sind. Diese indirekten Geschäftsmodelle stehen stärker unter Druck. Startups, die ARR (jährlich wiederkehrende Einnahmen aus Software-Miete) als Geschäftsmodell haben, sind besser dran. Selbst Cloud-Anbieter verzeichnen kurzfristig Einnahmeeinbußen, langfristig bedeutet die Krise aber einen massiven Schub für Technologie und das Silicon Valley – da sind alle extrem positiv gestimmt.

Die Arbeitslosigkeit in den USA nimmt massiv zu. Wird es so weitergehen?

Genau lässt sich das kaum sagen. Innerhalb von drei Wochen sind 17 Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit gefallen. Analysten sagen, dass weiniger als 20 Prozent des BIP stark betroffen sind, allerdings mit überproportional vielen Beschäftigten. Im Silicon Valley haben viele der Start-ups in kürzester Zeit 30 bis 40 Prozent ihrer Belegschaft abgebaut. In den USA gibt es mit wenigen Ausnahmen keine richtigen Arbeitsverträge und die Leute können ohne Vorlauf gekündigt werden. Innerhalb von einer Stunde muss man dann in der Regel hier seinen Arbeitsplatz verlassen und oft fällt dann auch die Krankenversicherung weg. Ich habe das selbst bei einem E-Scooter-Anbieter erlebt. Da wurden per Videokonferenz 30 Prozent der Mitarbeiter entlassen und aufgefordert, ihre Laptops per Post zurückzuschicken. Das war hart, aber notwendig.

Wie hilft der Staat?

Für die Menschen hat die wirtschaftliche Krise direkte, harte Konsequenzen. Die Krise trifft hier auf einen Staat, der im Vergleich zu Europa ein reduziertes Sozialsystem hat und kaum Arbeitnehmerschutz kennt. Haben die Leute einen Krankenversicherungs­schutz, dann verlieren sie ihn meist, wenn sie entlassen werden, da die Versicherung über die Firmen organisiert ist. Es gibt hier auch kein Instrument der Kurzarbeit. Es geht also wirklich oft um das nackte Überleben. Das weiß auch jeder hier. Daher sind die Menschen in der Lage, sich unglaublich schnell anzupassen.

Aber es trifft die Menschen doch sehr unterschiedlich?

Für die Home-Office-Elite ist es deutlich einfacher, mit der Krise umzugehen, als für die Uber-Fahrer oder allgemein die Gig-Worker. Die können nicht flexibel reagieren, wenn sie sofort rausgeschmissen werden oder die Aufträge verlieren. Trotzdem kreiden die Leute es nicht dem System an, sondern sehen dies als normalen Prozess. Für mich als Europäer ist das kaum nachzuvollziehen. Aber für die Amerikaner ist es klar, dass der Staat eine sehr geringe Rolle spielen soll. Niemand erwartet vom Staat etwas. Dabei besteht zwischen den Bundesstaaten aber ein großer Unterschied. In Kalifornien sind die Steuern viel höher, daher wird auch mehr Leistung bereitgestellt, beispiels­weise für Kleinunternehmer oder auf kommunaler Ebene.

Home-Office ist wahrscheinlich viel üblicher als bei uns in Deutschland?

Ob Home-Office hier gängiger ist, lässt sich pauschal nicht beantworten. Auch die Amerikaner gehen ganz gern ins Büro. Das gilt auch für die Digitalwirtschaft oder die Start-ups. Wir haben aber auch Klienten, die keinen festen Office-Standort mehr haben. Hier im Silicon Valley war das Umschalten auf Home-Office einfach, da eben generell sehr digital gearbeitet wird. Zudem können die neuesten Software-Tools ohne große regulatorische Beschränkungen eingesetzt werden. Daher arbeiten jetzt alle remote und nutzen Slack und Workboard, um ihre Teams und Kunden in Echtzeit miteinander zu verbinden. Wir auch.

Ist zu erwarten, dass es nach der Krise in den USA wieder business-as-usual weitergeht?

Auch wenn es eine Floskel ist: Die Welt wird anders aussehen. Im Moment gibt es in den USA sehr viele Diskussionen über das Next Normal. Wie wird eine Touchless-Society aussehen? Es ist eine große Zuversicht zu spüren, dass die Krise einen bereinigenden Effekt haben könnte und großes Potenzial freisetzt. Und sie wird sich stark auf die Zunahme der Digitalisierung auswirken. Technologie wird auch kurzfristig eine große Bedeutung haben, um die Biologie – das Virus – unter Kontrolle zu bringen. Erstmals arbeiten Google und Apple zusammen, um Social Tracking in die beiden Betriebssysteme zu integrieren. Alles wird weitaus digitaler werden. Im Supermarkt oder bei Starbucks möchte ich nicht mehr, dass Menschen die Produkte anfassen, der Mensch bleibt ein Risiko. Und da in den USA die regulatorischen Bedingungen anders sind als in Europa, werden neue Technologien hier schneller von Unternehmen ausprobiert und genutzt. Daher überlegen gerade alle, ob und wie ihr Geschäftsmodell auf die Zukunft ausgerichtet ist.

Lässt sich denn da in einer globalisierten Welt etwas ändern?

De-Globalisierung ist im Moment das große Thema. Ich bin davon überzeugt, dass manches viel lokaler wird. Es wird mehr lokale Supply Chains geben und das wird den Konsum verändern. Selbst global operierende Unternehmen werden lokaler werden müssen, auch wenn es zum Beispiel im IT Sektor schwierig ist, die Abhängigkeit von China zu reduzieren. Industriepolitik wird eine große Renaissance erleben.

Sind dies jetzt auch Themen in ihren Kundenprojekten?

Wir versuchen gemeinsam mit unseren Kunden die Einführung von Cloud Software Tools zu beschleunigen, dazu gehört vor allem auch Workboard. Unternehmen haben damit ein zentrales Tool für Transparenz und Entscheidung. Jede Firma wird stark in Resilienz-Themen investieren, auch dabei helfen wir. Dazu gehört eben auch Digital- Technologie, um sich unabhängiger von Arbeitskräften und Verkaufskanälen zu machen. Es läuft auf eine Touchless Society hinaus. So wie das Bezahlen ohne Kreditkarte hier längst normal ist. Auch ich gehe in keinen Laden mehr, in dem ich nicht mit Apple Pay kontaktlos bezahlen kann.

Was empfehlen Sie als Deutscher in der Bay Area derzeit Ihren europäischen Kollegen? Und worum beneiden Sie sie?

Kurzfristig beneiden viele hier Europa für die Krankenversicherung und sicher auch für die Möglichkeit der Kurzarbeit, um Talente zu halten. Europa ist ‚bequemer‘ in der Krise, während sie hier kaum abgefedert wird. Deshalb existiert ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassung, die kurzfristig schmerzhaft, mittelfristig aber sehr vorteilhaft ist. Der Selektionsmechanismus hier im Silicon Valley hat sich beschleunigt und die Unternehmen haben nur 1-2 Wochen gebraucht, um die neue Realität anzunehmen. Das hat zwar bisher die Bay-Area-Startups 20.000 Jobs gekostet, allerdings haben die Venture Funds mehr Kapital als je zuvor zur Verfügung und damit werden fantastische neue Unternehmen gebaut. Der Einsatz von Digitaltechnologie ist in Zukunft überlebenswichtig. Dazu ist es von großem Vorteil, eine hervorragende Digitalwirtschaft zu haben. Die ist in Europa immer noch sehr viel weniger vorhanden als in den USA oder China. Mehr Industriepolitik und De-Globalisierung bedeuten, dass wir in Deutschland mit aller Kraft die Digitalisierung auf ein neues Niveau heben müssen.

 

Wir bedanken uns bei Stefan Wilhelm für das Interview.