Technologischer Fortschritt, Digitalisierung und Innovationen sind Pflicht im globalen Wettbewerb. Die Kür besteht aus nachhaltigen Bemühungen. Trotz der eindrücklichen Signale des Klimawandels setzen zu wenige Unternehmen auf einen langfristigen Ansatz zum Fortbestehen in der zukünftigen Welt. Felix Sühlmann-Faul, freier Techniksoziologe und Autor, geht Fragen zu diesem Zusammenspiel gemeinsam Detecon’s Managing Partner Steffen Roos auf den Grund.
Detecon: Sie beschäftigen sich als Techniksoziologe mit den Themen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Nun sind Soziologen bekanntlich Weltmeister der Definitorik. Wie definieren Sie für sich diese beiden Begriffe?
Felix Sühlmann-Faul: Bei der Nachhaltigkeit ist es sinnvoll, sich auf die ‚Wiege‘ der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu stützen. Den Ursprung beziehen diese in der altbekannten und nach wie vor populären Definition der norwegischen Politikerin Gro Harlem Brundtland, die in ihrem Bericht „Our Common Future“ im Jahr 1987 schrieb: „Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“
Darüber hinaus wird der Begriff mit einer Gleichzeitigkeit von ökonomischer, ökologischer und sozialer Dimension verstanden. Es muss also zum Erreichen von Nachhaltigkeit eine Beachtung dieser drei Ebenen stattfinden. Etwas abstrakter lässt sich der Begriff auch mittels Effizienz, Konsistenz und Suffizienz erklären:
- Effizienz: zum Beispiel mit weniger Energie zum dieselbe Menge eines Produkts zu erzeugen.
- Konsistenz: bereits existierendes Material in anderer Form weiter zu verwenden – auch Recycling fällt hierunter.
- Suffizienz: allgemeine Reduzierung – weniger Energieverbrauch, Konsum, Lebensstil.
Suffizienz ist die wichtigste Komponente dieser drei genannten. Denn Effizienz und Konsistenz sind bedeutsam, besitzen aber nicht die Reichweite und Effektivität, die Suffizienz besitzt, mit ihr steht und fällt Nachhaltigkeit. In einer wissenschaftlichen Arbeit habe ich Digitalisierung folgendermaßen definiert:
„Digitalisierung ist die gesamtgesellschaftliche, globale, soziotechnische Transformation durch eine exponentiell wachsende Leistungsfähigkeit von Mikroelektronik.“
Diese Definition ist zwar etwas sperrig, besitzt aber verschiedene Vorteile:
- Es sind die konkreteren, früheren Ausläufer der Digitalisierung ausgeschlossen.
- Der Prozess, der durch die dritte industrielle Revolution angestoßen wurde und nach wie vor anhält, ist erfasst.
- Sie spricht eines der wichtigsten Charakteristiken der Digitalisierung an: Es handelt sich um eine soziotechnische Revolution. Das bedeutet, dass sie ein Prozess ist, der sämtliche Ebenen der Gesellschaft mehr oder weniger beeinflusst und der Prozess selbst ebenfalls durch die Gesellschaft beeinflusst wird.
Sie sprechen in Ihren Publikationen von einem „blinden Fleck in der Digitalisierung“. Was meinen Sie damit?
Kurz gesagt besteht der blinde Fleck aus dem Missverständnis, dass der Einsatz von Digitalisierung in irgendeiner Weise ‚automatisch‘ Nachhaltigkeit erzeugt oder nachhaltig ist. Die Geschwindigkeit von Innovationssprüngen ist gerade im Zeitalter der Digitalisierung immens. Damit steigt auch die Komplexität – insbesondere bei der Betrachtung von Themen wie Quantumcomputing, KI und CRISPR. Über diese wird täglich in den Medien berichtet. Aber wer vermag sie zu erklären? Die Wenigsten. Und durch das Nicht-Verstehen, aber das Sehen, dass ein technologisches Artefakt trotzdem funktioniert, hat die Hinwendung zu Wissenschaft und Rationalität, die uns die Epoche der Aufklärung gebracht hat, quasi eine Hundertachtziggradwende vollführt. Vielleicht glauben wir dadurch jeden Tag mehr, da wir weniger verstehen.
Fragen über ökologische und soziale Schäden als Folgen digitaler Infrastrukturen, Serverfarmen und Smartphones können oftmals unter den Tisch fallen. Und damit bleibt ein öffentlicher Diskurs über Nachhaltigkeitsfragen von Technologie im Allgemeinen und der Digitalisierung im Speziellen meistens aus.
In der Digitalisierung wird oft über Economy of Scale und Netzwerkeffekte argumentiert, die zum Beispiel exponentielles Wachstum in der Nutzung implizieren. Wie sehen Sie dieses Wachstumsparadigma?
Das ist ein sehr schwieriges und problembehaftetes Thema. Wenn wir von wirtschaftlichem Wachstum sprechen, sind essenzielle Institutionen unserer Gesellschaft auf die Existenz eines ständigen Wachstums angewiesen: Sozialversicherung oder Rente beispielsweise. Gleichzeitig wissen wir spätestens seit den Veröffentlichungen des Club Of Rome Anfang der 1970er Jahre, dass unendliches Wachstum auf einem biophysikalisch endlichen Planeten das genaue Gegenteil von Nachhaltigkeit ist. Die Folgen sind Umweltverbrauch und ein hohes Maß an Ungerechtigkeit zwischen dem globalen Norden und Süden sowie gegenüber unseren zukünftigen Generationen.
Die angesprochene Form von Wachstum in Zahlen von Nutzer*innen ist insofern ebenfalls problematisch, da das einen der größten Systemfehler des kapitalistischen Prinzips verstärkt in den Vordergrund stellt: Akkumulation und in Folge die Bildung von Monopolen. Der Netzwerkeffekt führt eben dazu, dass bei der Auswahl von Messenger-Diensten oder sozialen Netzwerken, die ohnehin schon ‚Großen‘ bevorteilt sind. Wer würde einen Messenger verwenden, den die Wenigsten aus dem Freundes- und Bekanntenkreis nutzen?
Wenn wir das Beispiel der Google-Suchmaschine betrachten, die in Europa einen Marktanteil um die 90 Prozent besitzt, wird diese dadurch, dass viele Menschen sie nutzen, besser. Der Algorithmus wird treffsicherer und dadurch steigen die Vorteile der Nutzung, was wiederum mehr Nutzerinnen und Nutzer dazu bringt, die Suchmaschine zu bevorzugen. Das ist von kurzfristigem Vorteil für Nutzer*innen. Längerfristig steigt aber auch hier eine Abhängigkeit von einem technischen Tool, das durch privatwirtschaftliche Interessen unterhalten wird.
Manipulation der Suchergebnisse beispielsweise durch politische Prägung nach Vorstellung des Konzerns, Bevorzugung von Suchergebnissen, die auf konzerneigene Produkte oder Dienste verweisen, bieten mittel- und langfristig keinen gesellschaftlichen Mehrwert, sondern verstärken im günstigsten Fall die Datenmacht eines Konzerns und verstärken im ungünstigsten Fall die Fragmentierung einer Gesellschaft durch Fake News und die Bildung von Filterblasen.
Wie sehen Sie die These, dass Digitalisierung sich schon von dieser Triebfeder des Fortschritts abgekoppelt hat und quasi frei in einer eigenen Wolke schwebt?
Interessante Überlegung. Dafür spricht natürlich, dass technologische Entwicklungen heute hauptsächlich auf dem exponentiellen Wachstum von Computing-Power basiert. Zwar verflacht sich diese Wachstumskurve seit einiger Zeit, wird aber durch biologische Halbleiter, Quantencomputing oder ähnliches wieder ihre exponentielle Steigung aufnehmen.
Nach wie vor bin ich der festen Überzeugung, dass Mensch und Technologie in einem Netzwerk zusammenhängen und beide Seiten Akteure sind, die Einfluss aufeinander ausüben. Damit begegnen sich Technologie und Gesellschaft auf Augenhöhe. Aber Technologie selbst besitzt keine eigene Macht, kein Bewusstsein und kann daher auch nicht entscheiden. Wenn immer mehr Entscheidungen ‚der Maschine‘ überlassen werden – denken wir an Auswahl von Bewerber*innen auf freie Stellen per Algorithmus – wird hier allerdings durchaus Macht verliehen und auch das Tor zu einer eigenen Dynamik geöffnet. Solche Entwicklungen müssen sehr stark hinterfragt werden.
Hier wird der Gesellschaft deutlich der Spiegel vorgehalten: Technologie wird – häufig auf Basis von Unwissen über die Funktion – viel zu sehr vertraut. Wie sehr das Lebensschicksale prägen kann, zeigt sich schon heute beim sogenannten ‚Predictive Policing‘, das in Großbritannien und den USA mehr und mehr zum Einsatz kommt.
Hier geben Algorithmen beispielsweise die Frequenz von Streifenfahrten durch bestimmte Stadtviertel vor auf Basis von Wahrscheinlichkeit von Verbrechen. Auch werden in Chicago Menschen, die bereits einmal verhaftet wurden, auf Basis verschiedener Faktoren wie Hautfarbe oder Schulbildung mit einem Score versehen, der angibt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass diese Person wieder ein Verbrechen begeht.
Kommen wir zurück zur Idee, dass Fortschritt Menschen dienen müsse. Was sollte denn eine nachhaltige Digitalisierung leisten beziehungsweise welche Fähigkeiten müsste die Gesellschaft ausprägen, um im besten Sinne von Digitalisierung zu profitieren?
Wir müssen verstehen, was uns in Form von Technologie umgibt. Dabei muss es nicht die genaue Funktionsweise sein – aber zumindest muss verstanden werden, dass künstliche Intelligenz beispielsweise nichts mit dem deutschsprachigen Begriff der Intelligenz zu tun hat, sondern dass dahinter ein mehr oder weniger komplexer Algorithmus steckt. Dadurch, dass wir täglich mit immer mehr Informationen umgeben werden, sind wir quasi ständig kognitiv überlastet. Das macht beispielsweise die Entscheidung, ob eine Nachrichtenzeile der Wahrheit entspricht oder eine schlichte Erfindung ist, zunehmend schwer. Skepsis und Argwohn brauchen Zeit und sind daher in einer überaus beschleunigten Gesellschaft zunehmend rar gesät - aber das ist nur ein Aspekt.
Allgemein muss Nachhaltigkeit die Basis für den Einsatz digitaler Technologie bilden. Und dafür muss stets überlegt werden: Bietet die sexy neue digitale Lösung wirklich einen nachhaltigen Mehrwert? Spart sie wirklich Energie oder verbraucht sie ggf. in Summe mehr Energie? Wie langlebig ist sie? Ist sie leicht reparierbar? Bietet sie einen gesellschaftlichen Mehrwert oder grenzt sie bspw. soziale Gruppen aus, weil sie vielleicht von älteren Menschen nicht genutzt werden kann?
Und im Allgemeinen: Es muss uns bewusst sein, dass unsere Wünsche und Bedürfnisse inzwischen sehr genau analysiert und daher viele der Angebote maßgeschneidert unterbreitet werden. Wenn uns aber das Thema Nachhaltigkeit am Herzen liegt und wir verstehen, dass es bei einer gesellschaftlichen Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit auf jeden einzelnen ankommt, ist Suffizienz die richtige Entscheidung. Die negative Konnotation des Verzichts fällt viel leichter, wenn wir uns vor Augen halten, dass wir alle einen enorm hohen Lebensstil besitzen. Und ein höherer Lebensstil macht nicht unbedingt glücklicher.
Ein kleiner Blick in die Zukunft? Wo sehen Sie uns in fünf Jahren?
Wir befinden uns an einer essenziellen Weggabelung. Spätestens die Corona-Krise hat gezeigt, dass die Zerstückelung von Lieferketten durch massive Globalisierungsbemühungen uns in Krisensituationen verwundbar macht. Die Digitalisierung muss mit einer großen Nachhaltigkeitstransformation Hand in Hand gehen.
Daher hoffe ich auf viele kleine und ein paar wenige große Änderungen, zum Beispiel ein Tempolimit von 120 km/h auf allen deutschen Autobahnen, ein verpflichtender Ausbau öffentlicher Gebäude mit Photovoltaik/Solarthermie, viel mehr Unternehmen mit Gemeinwohlökonomie-Zertifikat – inklusive ein paar ersten Großkonzernen sowie Medienkompetenz und moderne, agile Methoden im Schulunterricht. Zudem: eine Zertifizierung von Algorithmen anhand ethischer Richtlinien und statistischer Repräsentativität.
Ich könnte noch einiges aufzählen, kürze die Liste aber mit einer der größten Forderungen ab: Wir müssen faire Preise für Rohstoffe zahlen. Die Preise sind in der Regel externalisiert, d.h. dass für den Abbau, den Transport und das Material selbst gezahlt wird. Wir müssen die Kosten internalisieren, also auch für die ökologischen und sozialen Schäden aufkommen. Warum sollte der globale Süden für unsere Digitalisierung bluten?
Das ist ein langer Wunschzettel, ich weiß. Wir treffen aber jeden Tag sehr viele Entscheidungen im Supermarkt, am Arbeitsplatz und in der Familie. Wir sprechen mit Menschen und beobachten Fehlentwicklungen. Bis in fünf Jahren summieren sich diese vielen Entscheidungen zu massiven, riesigen Prozessen. Und diese können uns alle zu einer Nachhaltigkeitstransformation führen oder näher zum Kollaps. Das Handeln des Einzelnen darf nicht unterschätzt werden – es kann immer eine Vorbildfunktion sein.
Vielen Dank für das Interview!
Felix Sühlmann-Faul ist freier Techniksoziologe, Berater, Speaker und Autor mit Spezialisierung auf Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Er ist Werbekaufmann (IHK) und studierte Soziologie, Germanistik und Politikwissenschaft. Er verfasste eine umfassende Studie zu den Nachhaltigkeitsdefiziten der Digitalisierung und möglichen Handlungsempfehlungen im Auftrag des WWF Deutschland und der Robert Bosch Stiftung. Seit September 2018 ist sein Buch “Der blinde Fleck der Digitalisierung” im Oekom Verlag erhältlich. Derzeit promoviert er über Digitalkapitalismus, berät verschiedene Fraktionen des Deutschen Bundestags und ist beim Aufbau eines deutschlandweiten Forschungsnetzwerks zu Digitalisierung und Nachhaltigkeit beteiligt.