Edge Computing ermöglicht innovative Anwendungsfälle

Im Gespräch mit den Experten Christoph Goertz und Matthias Salge gehen wir den Fragen auf den Grund, was unter Edge Computing zu verstehen ist, was mit dieser neuen Technologie in Zukunft möglich sein wird und was es mit dem Telekom-Start-Up „MobiledgeX“ auf sich hat, an dessen Entstehung Detecon maßgeblich beteiligt war.

Detecon: Was genau ist eigentlich Edge Computing?

Christoph Goertz: Derzeit gibt es keine klare Definition die Edge Computing spezifisch eingrenzt, es ist also vielmehr ein weites Feld: Edge Computing ist ein technisches Konzept mit verschiedenen Ausprägungen. Ich versuche das mal anhand eines Beispiels, des sogenannten „Offload Compute“, zu beschreiben: Wenn wir uns anschauen, wie Software im Sinne einer Applikation heute verteilt interagiert, dann sehen wir als Basis die klassische Client-Server-Architektur. Das heißt: Wir haben auf der einen Seite Software auf dem Endgerät, das ist der Client. Auf der anderen Seite haben wir ein leistungsstarkes Backend, also den Serverteil, im heutigen Fall überwiegend die Cloud.

In der Netzkommunikation muss man also die Strecke Endgerät-Netz-Cloud überwinden. Und wenn wir jetzt über zukünftige Anwendungen reden, also neue Applikationen auf neuen Devices wie smarte Daten- oder AR-Brillen, Drohnen oder Roboter, dann werden all diese Anwendungen eine hohe Anforderung an das Computing haben, die mit den Mitteln eines Endgerätes nur auf Kosten von schlechtem Form-Faktor und/oder zu einem hohen Preis realisierbar sein werden.

Das Ziel ist also, dieses Computing vom Device, also vom Client, zum Server zu transferieren, wobei die Cloud zu weit entfernt ist. Die Strecke ist zu lang, der limitierende Faktor ist hier die Lichtgeschwindigkeit. Daher ist der Ansatz bei Edge Computing, den Serverteil näher an das Device heran zu schieben, also an die Kante des Netzes zu legen und damit geringe Latenzen, sprich: Verzögerungszeiten, zu ermöglichen.

Edge Computing ist also eine Weiterentwicklung des Cloud Computing?

Christoph Goertz: Genau, man kann sagen: Edge Computing ist eine komplementäre Erweiterung des Cloud Computing. Wie gesagt, es gibt verschiedene Edge Computing Varianten, quasi ein Kontinuum an Ausprägungen: Dies erstreckt sich von Edge auf dem Device, Edge in sogenannten IoT Gateways, Edge „on premise", Telco Operator Edge oder Edge am Rande des Internets. Die Industrie ist gerade dabei, sich auf eine einheitliche Terminologie zu einigen. Für den Bereich Telco Operator Edge gibt es den Begriff des Cloudlets, der 2009 definiert wurde und im Endeffekt eine Mini-Cloud im Operator-Netz beschreibt,  ohne die genaue Position des Cloudlets zu spezifizieren.

Wie sehen diese Cloudlets aus und wie können sie nahe am Endgerät platziert werden?

Christoph Goertz: Es gibt verschiedene Optionen, sie zu platzieren, denn ein Operator-Netz verfügt über mehrere Aggregationspunkte. Viele denken in erster Linie an die Antenne an der Basisstation. Das ist natürlich ein zu Beginn schwieriger Ansatz, weil man dann gleich von mehreren Zehntausend Cloudlets spricht – in Deutschland zum Beispiel existieren mehr als 20.000 Basisstationen. An so vielen Orten kleine Server aufzubauen – das ist zweifellos ein Riesen-Investment. Es bietet sich an, auf geringeren Aggregationsstufen anzufangen, zum Beispiel mit zehn bis zwanzig Standorten in Deutschland. Das würde schon ausreichen, um die ersten Edge-Applikationen zu entwickeln.

Warum ist diese Echtzeit-Kommunikation mit geringen Latenzen notwendig?

Matthias Salge: Das hängt von der Applikation selber ab. Es gibt viele Anwendungsbeispiele, auch im Internet of Things oder in der digitalen Kommunikation, bei denen Echtzeit keine Rolle spielt. Wenn du an einen smarten Mülleimer denkst, der zweimal am Tag zurückmeldet, wie voll er ist, dann ist das sicherlich nicht echtzeitrelevant. Aber je mehr die Technik, die Geräte und die Applikationen in den Alltag integriert werden, bei Privatpersonen oder in die Abläufe der Industrie, umso wichtiger wird der Faktor Echtzeit. In der Kommunikation zwischen den einzelnen Devices, aber auch allein durch die Wahrnehmung des Menschen. Wir Menschen sind relativ schnell in der eigenen Wahrnehmung. Verzögerungen irritieren und im Prinzip brauchen wir für eine gute User-Experience echtzeitnahe Anwendungen.

Kannst du mal ein Beispiel nennen, wann Echtzeit besonders wichtig ist, weil es sonst zu Schwierigkeiten kommt?

Matthias Salge: Sehen wir uns mal den Augmented-Reality-Bereich an. Dort beginnen Verzögerungen in der Wahrnehmung beim Menschen ab 20 bis 30 Millisekunden. Wenn du die Realität mit einer künstlichen Darstellung vermischst, dann erzeugen größere Latenzen Schwindelgefühl und Übelkeit beim Menschen, man spricht hier von „Motion Sickness“. Hier sind folglich Echtzeiten extrem kritisch, weil das menschliche Gehirn schneller arbeitet, als es die Technik momentan ermöglicht. Schauen wir andererseits in die industrielle Device-Kommunikation, wo viele Abläufe voneinander abhängig sind: Je länger hier die Abarbeitung dieser Abläufe dauert und je größer die Abhängigkeiten zwischen den Devices sind, umso schneller läufst du in Probleme.

Wird Edge Computing unser ganzes Leben und unsere Arbeit zukünftig verändern?

Christoph Goertz: Ja. Der Schlüssel hierbei ist das UI, das User Interface. Kurz gesagt: Wie wir als Menschen mit der Software interagieren. Nehmen wir ein Beispiel aus der Gegenwart: Das UI des Smartphones ist der Touchscreen. Ich nutze meine Finger und berühre die Bildfläche, um Aktionen auszulösen und Programme zu steuern. Das wird sich in Zukunft grundlegend ändern. Es werden Human Interfaces eingesetzt. Zum Beispiel bei der smarten Brille. Zur Steuerung nutze ich meine Stimme oder Gesten. Ich habe eine Kamera und kann anhand meiner Gesten bestimmte Aktionen triggern.

Das bedeutet, wir gehen in den Bereich Künstliche Intelligenz und Machine Learning, also Objekterkennung oder Kontextsensitivität. Zum Beispiel sitze ich auf meinem Fahrrad, trage eine Augmented-Reality-Brille und die wird mir nicht nur mittels Navigationssystem aufzeigen, welche Route ich einschlagen soll. Die Brille wird vielleicht auch ein bestimmtes Schild von einem Café erkennen. Es öffnet sich eine App, die mir einen Gutschein für dieses Café anbietet. Prima, ich kann eine Pause einlegen.

Augmented-Reality-Brillen werden künftig aussehen wie ganz normale Brillen.

Ist das nicht problematisch, wenn die Brille wirklich alles sieht?

Christoph Goertz: An dieser Stelle, wenn es um Objekterkennung oder Gesichtserkennung geht, kommen wir natürlich ganz schnell in eine gesellschaftspolitische Diskussion im Kontext von Datenschutz. Das heißt, wir als Gesellschaft müssen uns dann bewusstmachen: Was wollen wir überhaupt und zu welchem Preis? Wie ist der Datenschutz gewährleistet? Und hier kann Edge aber wiederum auch eine Schlüsselrolle spielen, weil man durch Edge Computing im Bereich Security eine neue Komponente hat: Der Server bleibt im Netz! Wir haben also eine Ende-zu-Ende-Kette vom Client zum Server, welche in einem geschützten Netz beheimatet ist. Diese Daten gehen nicht raus ins Internet. Das ist schon mal per se ein ganz anderer Ansatz als heutzutage.

Du sprichst den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs an. Von wem muss der angestoßen werden?

Christoph Goertz: Im Idealfall von allen Seiten. Im Moment wird das Thema nur nach bestimmten Anlässen diskutiert, zum Beispiel bei den Vorkommnissen in der Silvesternacht 2016/17 in Köln, wenn sich die Menschen plötzlich unsicher fühlen und mehr Kameras fordern. Dem entgegen steht das Thema Datenschutz. Wir müssen diese Diskussionen ganzheitlich führen.

Matthias Salge: Allein durch die Einführung der Technologie kannst du schon Anstöße geben. Indem du entsprechend sichere Applikationen auf Basis von Edge zur Verfügung stellst, werden Endkunden auch bereit sein, für Sicherheit und Datenschutz etwas mehr zu bezahlen. Es gibt einen Bedarf an datenschutzrechtlichen Aspekten.

Datenschutz als Schlüssel für den Erfolg?

Christoph Goertz: Wir stehen ja inmitten der zweiten Welle der Digitalisierung. In der ersten Welle hatten wir so eine Art Wildwest-Zeit. Die großen Internet-Player konnten eigentlich machen, was sie wollten. Es gab kaum einschränkende Regularien und sie haben ihre Monopolstellung gnadenlos ausgenutzt. Jetzt merken wir allerdings, dass von den Regierungen mehr Schranken aufgestellt werden, es werden Klagen eingereicht und es wird gesagt: Es geht nicht, was ihr mit unseren Daten macht. Die Politik wird aktiv und die Awareness in der Bevölkerung steigt: Die Daten sind jetzt das neue Gold und ich bin nicht mehr bereit, einfach meine Daten preiszugeben.

Eine neue Technologie wie Blockchain produziert ja ungeheure Datenmengen. Ist das beim Edge Computing auch so?

Matthias Salge: Es ist ganz wichtig zu verstehen, dass das Datenvolumen hauptsächlich durch die Applikationen steigt und durch die möglichen Use Cases. Das ist letztendlich die technologische Evolution, die wir durchlaufen: Jedes Gerät hat eine Kamera, jedes Gerät hat Sensoren, die Daten sammeln. Das heißt, je mehr Daten wir in diesen Devices aufnehmen, umso mehr Daten werden letztendlich auch übertragen und verarbeitet. Das hat noch nichts direkt mit Edge Computing zu tun. Aber Edge hilft natürlich, mit dieser steigenden Datenmenge umzugehen: Es ist ressourcenschonender, die Verarbeitung der Daten nah an der Quelle durchzuführen und die Daten nicht durch das gesamte Netz zu transferieren.

Mit welchen Kosten muss ich bei einem Edge-System rechnen, sowohl hinsichtlich Investition als auch hinsichtlich Wartung und Betrieb?

Matthias Salge: Das ist eine sehr berechtigte Frage, die wir allerdings noch nicht abschließend beantworten können. Das Ökosystem Edge Computing entsteht gerade erst, und in diesem Ökosystem gibt es sehr viel Player: App Developer für den Massenmarkt, Enterprise Lösungen, Netzbetreiber, Service Provider, Cloud Provider und so weiter. Jeder Player hat letztendlich seinen Anteil an den Kosten mitzutragen. Wir sind im Rahmen unserer bisherigen Projekte schon dabei, erste Businessmodelle zu definieren.

Muss Edge Computing also warten, bis sich die Rahmenbedingungen ändern?

Matthias Salge: Der Angang von Edge Computing muss ein anderer sein. Wir haben heutzutage im Netzwerk bereits Kapazitäten. In vielen Rechenzentren, an vielen Knoten, gibt es Server, die freistehen und als redundant gelten. Warum fängt man nicht an, bestehenden Ressourcen im Netzwerk zu nutzen? Man baut die Orchestrierung oben drüber, so wie es ‚MobiledgeX‘ jetzt gerade plant, und bietet damit eine Art Plattform für Entwickler, sich dem Thema Edge Computing anzunehmen, ihre eigenen Applikationen zu bauen und damit auch letztlich ihre eigenen Businessmodelle zu entwickeln. Damit ist Edge Computing eigentlich eher ein Enabler für neue innovative Use Cases, die dann wiederum den zukünftigen Bedarf an Edge Computing Kapazitäten definieren. Dieser Anstoß ist die Herausforderung. Aber die Nutzung von zunächst bereits bestehenden Ressourcen und „klein“ anzufangen, ermöglicht es, frühzeitig Erfahrungen zu sammeln.

Um das Thema etwas konkreter zu fassen: Könnt ihr ein paar typische Anwendungsbereiche nennen, für die Edge Computing Sinn macht?

Christoph Goertz: Mittlerweile sind wir so weit, dass wir die Anwendungsbereiche in vier Kategorien klassifizieren können. Die erste Kategorie ist Offload Compute, die ich bereits eingangs beschrieben habe. Das bedeutet: Ich habe Limitierungen auf dem Device, schiebe die Rechenleistung, die dort erforderlich wäre, ins Netz und leiste das über Edge Computing. Beispiel dafür ist eine Augmented-Reality-Brille. Wenn ich mir die heutigen Brillen anschaue: Die sind groß, haben einen nicht optimalen Formfaktor und sehen eher aus wie ein Helm. Sie sind auch komisch zu tragen, man hat hinterher diese Streifen auf der Stirn. Und sie sind ziemlich teuer, wegen des integrierten Rechners. Zukünftig wird eine AR-Brille aussehen wie eine normale Brille und keine 3.000 Euro mehr kosten, sondern vielleicht 300 Euro.

Den zweiten Bereich nennen wir Multi-Site-Orchestration. Ich habe verschiedene Devices, die lokal zusammenhängend orchestriert werden müssen. Beispiel hierfür sind Gaming Anwendungen in Szenarien mit Multi-Player in gleicher Lokation. Man kann sich das so vorstellen, dass zum Beispiel mehrere Spieler am gleichen Ort zur selben Zeit ein imaginäres Monster bekämpfen. Die Auswirkung dieses Kampfes muss absolut in Echtzeit über eine Mehrzahl von Devices orchestriert werden, andernfalls ist keine gewünschte User Experience möglich.

Wenn ein Roboter in einer Fabrik unterwegs ist, muss er sofort handeln, sobald er eine entsprechende Information von einer Kamera bekommt.

Welche Anwendungsbereiche gibt es noch?

Christoph Goertz: Nummer drei sind Kontrollsysteme. Das bedeutet, wir haben Intelligenz, die in Echtzeit bestimmte Aktionen ausführt. Beispielsweise ein kleiner Roboter, der in einer Fabrik unterwegs ist. Wenn er eine Information von einer Kamera bekommt, muss er sofort handeln. Die KI-basierte Verarbeitung in der Edge muss in Echtzeit zurück an den Roboter gesendet werden, damit dieser entsprechende mechanische Steuerungen ausführt.

Kategorie vier nennen wir Data Condensation. Im Endeffekt handelt es sich um Filter und Reduktion. Wir haben künftig Millionen von IoT-Devices, die kontinuierlich Daten schicken, wovon etwa 90 Prozent unbrauchbar sind. Wie bereits angesprochen: Wenn wir diese Datenmengen schon an der Quelle durch Künstliche Intelligenz oder Machine Learning reduzieren, erzielen wir eine erhebliche Effizienzsteigerung. In eine dieser vier Kategorien lässt sich praktisch jeder Use Case klassifizieren.

Kann ich beispielsweise als produzierendes Unternehmen durch Edge meinen gesamten Produktionsprozess optimieren?

Christoph Goertz: Ja, absolut. Das ist der Bereich Manufacturing oder Industrie 4.0. Heutzutage sind viele Maschinen in der Produktion abhängig vom WLAN – im Hinblick auf ultra-geringe Latenzen das ist ein eher schlechter Access. Die Industrie schaut schon sehnsüchtig nach 5G, weil 5G eine super Performance bringt. Das heißt, Unternehmen werden rasch von WLAN auf 5G umsteigen. Und mit 5G in Verbindung mit Edge Computing lassen sich eine Vielzahl von Produktionsprozessen effizienter und kostengünstiger abbilden. Zum Beispiel, dass das Compute des Roboters künftig komplett in der Edge liegt. Der Roboter an sich wird simpler und günstiger, weil er im Prinzip nur noch die Mechanik und ein paar Sensoren in sich birgt. Außerdem muss er nicht mehr so intensiv gewartet werden. Die eigentliche Logik ist in der Edge. Aber dafür sind wirklich extrem niedrige Latenzen erforderlich, man spricht da von unter fünf Millisekunden. Das muss das Zusammenspiel von 5G und Edge gewährleisten.

Ein weiterer Anwendungsbereich in der Industrie ist der Einsatz von Augmented-Reality-Brillen. Am Fließband kann der Mitarbeiter Hilfestellung bekommen, indem Objekte, wie fehlende Werkzeuge, schon frühzeitig identifiziert werden. Oder in der Fertigungsstraße, wenn Objekte nach Fehlern untersucht werden. Fehlerteile können sofort erkannt und aussortiert werden. Wenn du in der Produktion in kleinen Schritten nur ein paar Millisekunden einsparst, kannst du in Summe über Monate oder das Jahr gerechnet hohe Effizienzsteigerungen erzielen.

Bedeutet das, das Edge Computing ohne 5G eigentlich gar nicht denkbar ist?

Christoph Goertz: Wir sagen immer: „Edge Computing braucht 5G. Aber 5G braucht auch Edge Computing“. Man braucht beides. 5G beseitigt ja eine Hürde im Access. LTE hat heute 20 Millisekunden im Access, das wird durch 5G reduziert auf drei Millisekunden. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Wenn dann der Server nach wie vor in einer Cloud irgendwo in Norwegen steht, dann bringt mir das herzlich wenig, weil der Gesamtweg immer noch so lang ist.

Matthias Salge: Fakt ist: 5G ist noch nicht da. Wir wissen, dass 5G kommt und dass wir es brauchen, um entsprechende Latenzzeiten zu erzielen. Aber Edge Computing ist heute schon möglich. Und wir haben ja bereits bewiesen, dass auch mit LTE gute Latenzzeiten zu erzielen sind.  Darüber hinaus sind Konzepte, wie beispielsweise ‚Sicherheit im Netz‘, alle valide, egal, ob wir LTE oder 5G nehmen. Das heißt, wir haben jetzt schon die Möglichkeit, diese Konzepte der Zukunft zu testen und Erfahrungen zu sammeln. Wir sollten uns nicht zu sehr auf 5G fokussieren, sondern jetzt schon mit Edge Computing starten und implementieren, was heute möglich ist.

Geschäftliche Innovationen basieren heute zum Großteil auf technologischem Fortschritt. Spielt Edge Computing dabei eine zentrale Rolle?

Matthias Salge: Ja, ganz klar. Edge Computing ist ein Enabler für ganz neue Möglichkeiten in der Applikationsentwicklung. Damit bewegen wir uns in sämtlichen Industriezweigen, sei es Gesundheitswesen, Automobilindustrie oder auch Landwirtschaft. Nur mit Edge Computing alleine werden wir nicht weiterkommen. Gefragt sind vor allem die Entwickler, die kleinen Start-ups, die Kapazitäten in ihre Idee stecken können. Sie schaffen letztlich die Innovation. Edge selbst ist nicht die Innovation.

Welche Auswirkungen hat die Dezentralität auf Aspekte wie Sicherheit und Datenschutz?

Matthias Salge: Ich möchte kurz ein Beispiel nennen. Es wurde ja schon gesagt, dass wir uns idealerweise in einem sicheren Netzumfeld bewegen, solange wir dieses nicht verlassen. Heutzutage gehen die meisten Applikationen durchs Mobilfunknetz hindurch in die Cloud. Und um dorthin zu kommen, müssen sie durchs Internet. Wenn wir die Kommunikation auch im Netzwerk belassen, haben wir per se schon mal ein deutlich sichereres Umfeld. Ich denke da an Kameraüberwachung oder Objekt-Erkennung. Das sind alles Daten, die man datenschutzrechtlich tatsächlich nicht an einem beliebigen Ort ablegen will. Aber solange wir in dem sicheren Umfeld sind, kann man sich durchaus vorstellen, mit Hilfe von künstlicher Intelligenz in der Edge entsprechende Auswertungen zu machen und in diesem geschützten Rahmen dort auch abzulegen. Ich bin überzeugt, dass das am Ende ein ganz entscheidender Faktor sein kann. Sowohl im wirtschaftlichen Bereich als auch im privaten Leben.

Wird Datenanalyse ganz allgemein durch Edge Computing einfacher?

Christoph Goertz: Datenanalyse kann natürlich prinzipiell überall erfolgen, das ist ja nicht umsonst ein eigenes Fachgebiet. Allgemein kann man sagen: Wenn die Datenanalyse näher an der Quelle stattfindet, wird dadurch erstens die Datenmenge reduziert, zweitens können wir Echtzeit garantieren und drittens ist es ideal, um Modelle für KI und Machine Learning aufzubauen, was ohne Edge ein durchaus steiniger Weg ist. Nicht nur deshalb, weil es sehr wenige erstklassige Data Scientists gibt.

MobiledgeX (mobiledgex.com) ist eine netzübergreifende Edge-Plattform, initiiert von der Deutschen Telekom.

Ihr beschäftigt euch bei Detecon ja schon seit längerer Zeit mit dem Thema Edge und arbeitet auch an Businessmodellen und technischer Umsetzung. Was genau habt ihr da gemacht?

 

Matthias Salge: Wir haben 2016 eine Anfrage bekommen, die Deutsche Telekom dabei zu unterstützen, die Idee einer netzübergreifenden Edge-Plattform in einem Proof of Concept darzustellen, eine entsprechende Strategie dafür zu entwickeln und letztendlich auch das Ökosystem im Markt zu untersuchen, wie weit das sinnvoll und machbar ist. Selbstverständlich haben wir auch auf ein entsprechendes Businessmodell für die Deutsche Telekom geschaut. Ausgangspunkt der Überlegung war, dass Edge nicht wirklich das Thema nur eines einzigen Netzbetreibers ist, sondern idealerweise überführt werden sollte in ein Start-up, das dann unabhängig diese Idee weitertreibt und zu einem Produkt entwickelt, um andere Netzbetreiber dafür zu gewinnen. Wir als Detecon haben diesen gesamten Prozess begleitet, von der ersten Architektur und Lösungsüberlegung, über die Partnerwahl bis hin zu einem Konzept inclusive Strategie. Diese Vorstandsvorlage führte schließlich dazu, dass das Start-up gegründet wurde.

Wir reden über das Start-up ‚MobiledgeX‘. Was genau hat das 20-köpfige Detecon-Team gemacht?

Matthias Salge: Wir haben in den Bereichen Technologie, Strategie und Businessmodelle gearbeitet. Im Kern ging es um die Frage: Wie soll das Start-up ausschauen, was braucht es dafür, also im Prinzip die gesamte Vorbereitung der Implementierung. Von der Namensgebung bis hin zur Struktur. Nach der Gründung im vergangenen Jahr, haben wir in diesem Jahr CEO Jason Hoffman und seinem Leadership-Team konkret beim Aufbau der Organisation geholfen. Sehr erfolgreich, denn ab sofort steht ‚MobiledgeX‘ auf eigenen Füßen.

Kannst du kurz skizzieren, was ‚MobiledgeX‘ ist?

Christoph Goertz: ‚MobiledgeX‘ ist im Grunde eine ‚netzbetreiber-agnostische‘ Plattform für Edge Computing. Wir sehen den Bedarf hinsichtlich Applikationen und Devices und wir sehen, dass Betreiber sehr gut positioniert sind mit ihrem Netz. Sie besitzen ein Asset, das sie jetzt gewinnbringend einsetzen können. In der Vergangenheit haben sich die Netzbetreiber oft sehr schwer getan, die Developer anzusprechen und ihnen eine entsprechende Entwicklungsumgebung zur Verfügung zu stellen. Mit ‚MobiledgeX‘ haben wir eine unabhängige Silicon-Valley-basierte Firma mit Developer-fokussiertem Mindset und Expertise, die hier die Brücke schlägt zwischen Betreibern und der Developer Community.

Und es gibt noch einen zweiten Aspekt. Jeder Betreiber hat einen Limited-Footprint, deckt also nur seine eigenen Kunden ab. Diese fragmentierten Märkte machen die Sache für einen Software-Entwickler natürlich sehr schwierig. Er müsste mit jedem einzelnen Netzbetreiber in Kontakt treten, um seinen Edge-Service zu realisieren. Deswegen die Idee eines ‚Software-Overlays‘, der über der Netzbetreiber-Ebene positioniert wird. Dieser Layer fungiert als Single Point of Interface für die Developer und nach unten hin integriert er möglichst viele Netzbetreiber weltweit. Das heißt, wir helfen von beiden Seiten: Wir helfen einmal den Entwicklern und geben ihnen die Infrastruktur, und umgekehrt helfen wir den Betreibern, ihre Assets gewinnbringend umzusetzen.

‚MobiledgeX‘ wirbt ja damit, ein ‚globaler Marktplatz für Edge Enabled Services‘ zu sein. Geht es dann nicht doch de facto um die Schaffung eines weltweiten Standards?

Christoph Goertz: Schauen wir uns doch die großen Internet-Player an, Apple oder Google. Haben die irgendetwas auf einem globalen Standard aufgebaut? Nein, die haben einfach losgelegt und das wurde dann zum De-facto-Standard. Oder es wurde ein in sich geschlossenes Ökosystem wie Apple. Mit diesem Projekt macht die Deutsche Telekom einen revolutionären Schritt, denn sie hat erkannt: Wir müssen einen neuen Weg gehen. Die Telekom hat mit der Gründung von ‚MobiledgeX‘ echtes Leadership gezeigt. Die Hoffnung ist, möglichst viele Netzbetreiber davon zu überzeugen, diesen Weg mitzugehen. Es ist ein moderner Weg, ich möchte fast sagen: Ein typischer ‚Silicon-Valley-Weg‘, den die Telcos früher immer eher neidisch betrachtet haben.

Wie sieht es denn bei den anderen Telekommunikations-Unternehmen aus. Haben die das Thema Edge Computing auch mit Priorität auf dem Schirm?

Christoph Goertz: Ja, haben sie. Und es gibt ja auch Vereinigungen wie die ‚Open Edge Community‘, in denen viele Netzbetreiber vertreten sind, darunter auch die Deutsche Telekom. Im Endeffekt geht es darum, die eigenen Interessen abzubilden, die durchaus sehr heterogen sein können. Insofern ist nicht verwunderlich, dass es in diesem frühen Stadium verschiedene Ausprägungen und Richtungen gibt. Es ist ein vielschichtiges Modell, wo noch viele Sachen unklar sind. Man weiß noch nicht genau: In welche Richtung entwickelt sich das? Wenn ich allein an die Infrastruktur denke. Jedem Netzbetreiber ist klar, wir brauchen Virtualisierung und wir müssen unser Netz effizienter gestalten. Aber es sind noch etliche Hürden zu überwinden. Agilität in den Prozessen ist nur eine davon. ‚MobiledgeX‘ kann die Aufgabe übernehmen zu orchestrieren und dazu motivieren, in eine gemeinsame Richtung zu gehen. Und nicht alle in eine verschiedene.

Heißt das auch, dass es für Entwickler keine Auflagen hinsichtlich der Access Technology gibt?

Matthias Salge: Das steckt ja letztendlich schon im Namen drin: ‚Mobile‘ und ‚Edge‘. Heutzutage wählen die Entwickler normalerweise WiFi oder Fixed Access, aber der Zugang zu einem Mobilfunknetz ist komplex. Diese Hürde zu beseitigen, ist eine der wichtigsten Aufgaben von ‚MobiledgeX‘. Wir müssen das Thema ‚Mobile First‘ vorantreiben, denn da wird es mit 5G ja auch hingehen. Die geringen Latenzen bieten genau die Möglichkeiten, die die Entwickler suchen und brauchen. SIM-Karte, Registrierung, Identität – das sind Einstiegshürden, die von einem kleineren Entwickler nicht so einfach zu handhaben sind. Die wollen wir beseitigen und einen einfacheren Zugang schaffen.

Jeder Entwickler hat also in diesem Ökosystem die Möglichkeit, genau die Partner zu finden, die er für sein Projekt braucht?

Christoph Goertz: Im Idealfall braucht er keine Partner, im Sinne von Infrastruktur-Anbieter, weil das die ‚MobiledgeX‘ ja für ihn schon übernimmt. Er kann sich auf das fokussieren, was er gut kann: Neue Applikationen entwickeln. Und er kann das jetzt einfach und schnell realisieren.

Ihr habt jetzt seit 2016 praktische Erfahrungen gesammelt, in welche Richtung wird sich das Thema entwickeln?

Matthias Salge: Wir hatten die einzigartige Möglichkeit, das Thema schon sehr früh anzugehen und Erfahrungen sammeln zu können. Die Telekom war einer der Netzbetreiber, die ihre Strategie erst finden und definieren musste und wir als Detecon haben in diesem Prozess eine sehr prominente Rolle gespielt. Die Zielsetzung aus dieser Erfahrung heraus ist ganz klar: Wir wollen als kompetentes Beratungsunternehmen für weitere Projekte im Edge-Markt auftreten. Deshalb sind wir gerade dabei, uns so zu strukturieren, dass wir mit unseren Kompetenzen und Ressourcen, über die Deutsche Telekom hinaus, auch andere Netzbetreiber in ihrer Edge-Journey unterstützen können.

Und das natürlich weltweit…

Christoph Goertz: Genau. Wir haben als Detecon jetzt schon in über 130 Ländern Projekte gemacht. Wir sind auf dem Gebiet ICT und Telekommunikation anerkannt und ich glaube, auch auf der Basis der Erfahrung und Expertise, die wir jetzt in kurzer Zeit beim Thema Edge Computing aufgebaut haben, können wir mit allen Kunden den Weg erfolgreich gehen. Der Punkt ist ja: Das Thema Edge hat rasant Fahrt aufgenommen und es gibt verschiedenste Lösungen und Ausprägungen. Was wir jetzt mit ‚MobiledgeX‘ gemacht haben, ist keine Vendor-Lösung, so dass wir uns im Markt breit aufstellen können.

Arbeitet ihr schon konkret an weiteren Projekten im Edge-Umfeld?

Matthias Salge: Wir sehen uns als einen Partner von ‚MobiledgeX‘, aber letztendlich auch als unabhängige Beratung. Wir werden sicher nicht versuchen, einen Betreiber in ‚MobiledgeX‘ hinein zu zwingen. Manche werden sich vielleicht auch dazu entscheiden, nicht in diesen Verbund einzutreten. Und dann sind wir trotzdem ein Valuable Partner zur Entwicklung der individuellen Edge-Strategien.

Christoph Goertz: Es gibt ja auch genug Beispiele, wo wir sagen: Das kannst du unabhängig von der ‚MobiledgeX‘ machen. Und dann stellt sich natürlich immer die Frage: Wann ist der richtige Zeitpunkt? Das betrifft vor allem große Netzbetreiber, die schon gut aufgestellt sind. Aber es gibt auch kleinere, bei denen zunächst konkrete Netz-Analysen erforderlich sind. Die können sich zumindest schon einmal strategisch ausrichten.

Matthias Salge: Bevor sich ein Netzbetreiber für ‚MobiledgeX‘ entscheidet, durchläuft er einen sehr interessanten Prozess, den wir auch bei der Telekom erlebt haben. Angefangen bei der Fragestellung: Für was brauche ich das überhaupt? Dieser interne Findungsprozess, die Entwicklung von konkreten Use Cases, das ist völlig unabhängig von der ‚MobiledgeX‘. Wir haben jetzt schon einige Anfragen mit dem Tenor: Ihr habt das mit den Use Cases doch schon gemacht, könnt ihr uns da nicht helfen?