Fast ein Jahrzehnt nach dem Start von Google Glass gibt es neue und spannende Entwicklungen in der Welt der Extended Reality - oder kurz XR. Neben dem aufstrebenden Geschäft von Facebooks Oculus-Ökosystem existieren die ersten Mixed Reality (MR) Brillen wie die Nreal, die seit Ende 2020 den Nutzern zur Verfügung stehen. Doch wie die jüngsten Kooperationen und Markteinführungen von Nreal in Europa und Asien zusammen mit der Deutschen Telekom, Vodafone, KDDI und LG Uplus zeigen, scheinen auch Telcos von diesen neuen Branchentrends zu profitieren.
In diesem Interview mit Tiana Trumpa (Team Lead, XR Innovation bei Deutsche Telekom AG) und Terry R. Schussler (Senior Director, Spatial Computing bei Deutsche Telekom AG) wollen wir die Zukunft der XR-Branche insbesondere für Telcos diskutieren und herausfinden, ob und wie XR auch Ihr zukünftiges Geschäft beeinflussen kann.
Detecon: Was ist mit dem Begriff XR gemeint?
Tiana: XR ist ein Überbegriff und spannt ein Kontinuum auf, das aus Virtual Reality (VR) auf der einen Seite und Augmented Reality (AR) auf der anderen Seite besteht. Der Unterschied ist, dass bei VR der Nutzer komplett in eine künstliche Umgebung eingebettet ist, die keinen Bezug zur "normalen" Welt um ihn herum hat - stellen Sie sich vor, Sie wären zum Beispiel in "der Matrix". Auf der anderen Seite gibt es Augmented Reality, bei der virtuelle Inhalte in die reale Welt eingeblendet werden - stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie spielen Pokémon Go auf Ihrem Mobiltelefon.
Terry: Entscheidend ist, was in sich zwischen VR und AR befindet. Mixed Reality (MR) kombiniert das Beste aus diesen beiden Welten, bei der digitale Inhalte und die Realität im gleichen Raum zusammenkommen. Es ist mehr als eine Überlagerung der Realität. Wenn zum Beispiel ein virtueller Ball auf eine reale Wand trifft, weiß der Ball auf magische Weise, dass er zurückprallen muss. Es geht vor allem um die Interaktion. Die Software wird lernen, was wir tun. Die Interaktion zwischen den beiden Welten soll nahtlos werden - das wird dazu führen, dass Menschen von einem 2D- zu einem 3D-Interaktionsmodell mit digitalen Inhalten übergehen.
Detecon: Warum ist das für ein Telco-Unternehmen als Connectivity-Anbieter relevant?
Tiana: Unsere Kommunikation und Interaktion wird sich verändern, da die digitale und die reale Welt näher zusammenwachsen werden. Wir werden uns von Bildschirmen wegbewegen und völlig neue Erfahrungen in 3D machen. Wir müssen nicht nur unsere bestehenden Unterhaltungsangebote für XR fit machen, sondern auch unser Netzwerk. Über die reine Datenmenge hinaus, müssen wir uns mehr auf die Intelligenz und Reaktionsfähigkeit unserer Netzwerke konzentrieren. Das Netzwerk wird Telcos in die Lage versetzen, ein konsistentes Nutzererlebnis zu liefern.
Terry: Die Implementierung von XR erfordert massive Datenmengen, nicht nur virtuelle Elemente, sondern auch Daten über die reale Welt, einschließlich Geolokalisierungsdaten. Bisher war das Betreten neuer Welten nur möglich, indem man ein paar Kilo schwere Technologie auf dem Kopf trug, um diese Daten zu sammeln und zu verarbeiten. Eine deutliche Reduzierung von Gewicht, Größe und Preis der Geräte wird möglich, wenn die Rechenleistung aus dem am Kopf getragenen Gerät ausgelagert wird. In einem ersten Schritt auf das Smartphone, in einem zweiten Schritt an den Rand des Netzwerks. Damit die Erfahrungen in XR immer realistischer werden, müssen mehr Daten in Echtzeit verarbeitet und gestreamt werden. So wird das Netzwerk letztendlich zu einem wesentlichen Teil des Produkts.
Das Sammeln von Daten wird dazu führen, dass verschiedene Unternehmen in Zukunft versuchen, eine 1:1-Kopie der realen Welt zu erzeugen. Dies wird essentiell sein, um reale und virtuelle Welten miteinander verschmelzen zu lassen. Firmen wie Niantic unternehmen bereits erhebliche Anstrengungen, um diese Daten zu sammeln. Das Hosten und Bereitstellen dieser Daten liegt jedoch in der Verantwortung einer Telco-Edge-Cloud - aus Gründen der technischen Möglichkeiten und der Sicherheit. Wir brauchen also auch Algorithmen im Netzwerk, um diese Daten zu verwalten und sich ändernde Elemente zu aktualisieren, zum Beispiel Echtzeit Crowd-Sourced-Data.
Mit der kürzlichen Markteinführung von Nreal in Japan und Korea sehen wir jetzt die ersten MR-Brillen, die für Endkunden verfügbar sind. Wo steht die XR-Industrie derzeit?
Terry: Der massive Erfolg der Oculus Quest hat gezeigt, dass es ein tragfähiges Geschäftspotenzial für VR gibt. Bereits 2018 waren die Nutzer bereit, innerhalb der ersten sechs Monate im Durchschnitt 100$ für Software zu bezahlen - das scheint ein solides Geschäftsmodell zu sein und könnte eine Blaupause für Consumer XR im Allgemeinen sein. Der Wendepunkt für den Erfolg war eine großartige Kombination aus drei Komponenten:
1. Preis
2. erstmalige Benutzererfahrung
3. Inhalt & Anwendungen
Auf der AR/MR-Seite wiederum gibt es sowohl sehr einfache als auch High-End-Geräte auf dem Markt. In der Mitte klafft eine große Lücke, in die Nreal einsteigt. Die Kompression wird in der Mitte hier stattfinden, wo es auf die richtige Kombination aus Preis, Erstnutzererfahrung und Inhalt für den Verbraucher ankommt. Insbesondere die Software-Ökosysteme, die eine Mixed-Reality-Entwicklung ermöglichen, stecken ebenfalls noch in den Kinderschuhen. Die Entwicklung einer vernünftigen Computervision auf der Basis von sehr einfachen Kameras ist eine große Herausforderung. Wir können sehen, wie dieses Problem zum Beispiel mit der LiDAR-Kamera in den neuen iPhone 12-Modellen angegangen wird.
Tiana: XR befindet sich in Summe in einem sehr frühen Stadium. Mixed Reality ist im Vergleich zu VR irgendwo zwischen drei bis fünf Jahren hinterher. Es ist im Grunde ein Henne-Ei-Problem: Man muss die Nutzer mit einer kritischen Masse an Inhalten überzeugen - aber die Entwickler fangen erst dann an, Apps zu entwickeln, wenn es genug Nutzer gibt, die überhaupt dafür bezahlen. Wie die Geschichte gezeigt hat, brauchen diese neuen Produktkategorien einen Funken, um zum Leben zu erwachen.
Mit Nreal als MR-Gerät stehen wir noch am Anfang einer langen Reise. Hardware und Formfaktor werden sich verbessern, Kabel werden verschwinden. Inhalte und Anwendungen finden derzeit in 2D statt und 3D-Inhalte werden erst an Fahrt aufnehmen, wenn SW und HW neue Möglichkeiten eröffnen. Aber schon heute können wir ein entstehendes Anwendungsportfolio sehen, um die Anforderungen der Early Adopter zu erfüllen, wie zum Beispiel Video-Streaming und neue 3D-Content-Anwendungen.
XR wird in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen. Welches konkrete Geschäftspotenzial bietet es für die Deutsche Telekom und was müssen Sie heute tun, um es langfristig zu nutzen?
Tiana: Natürlich wollen wir mit XR Umsatz machen und das Geschäftspotenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft. Wir können zum Beispiel als Aggregator für soziale/kulturelle Veranstaltungen fungieren. Hier geht es um das gemeinsame Erleben, auch wenn dies nicht physisch möglich ist. Wir bringen Menschen auf digitalem Wege näher zusammen!
Generell ermöglicht XR völlig neue Werbeflächen und Möglichkeiten. Was der Kunde sieht, kann verarbeitet werden, und intelligente Werbung kann entsprechend platziert werden. Ich sehe es als unsere Aufgabe als Telekommunikationsunternehmen an, einen Mehrwert für den Kunden zu generieren und ihn nicht nur mit Werbung zu bombardieren. Es geht um mehr Transparenz und Auswahl, wobei der Schutz der Privatsphäre an erster Stelle stehen muss.
Wie bereits erwähnt glauben wir, dass unser Netzwerk ein wesentlicher Teil des XR-Ökosystems im Allgemeinen sein wird. Letztendlich werden wir einige Teile zukünftiger XR-Erlebnisse in unserer Edge Cloud hosten, die dann über unser 5G-Netzwerk an den Endnutzer ausgeliefert werden. Indem wir eine wesentliche Rolle in diesem Orchestrierungsprozess spielen, können wir völlig neue Geschäftsansätze entwickeln.
Terry: Praktisch können wir schon jetzt eine Menge ohne 5G und Edge machen. Man braucht das nicht, um ein großartiges XR-Erlebnis zu haben. Aber man kann ein viel besseres Erlebnis liefern! In Zukunft wird es Anwendungsfälle geben, die 5G benötigen, um völlig neue Erfahrungen zu bieten. Die Verringerung der Latenzzeit und die Synchronisierung der Bewegung ist für ein gutes Multi-User-Erlebnis unerlässlich. Entwicklern den Zugang zum Rendering ihrer Apps in unserem Edge-Netzwerk über APIs zu ermöglichen, um diese Herausforderung zu überwinden, könnte also auch ein potenzielles Geschäftsmodell sein, aber das sind sehr frühe Gedanken.
Zunächst werden wir jedoch unsere bestehenden 5G- und Unterhaltungsangebote für Verbraucher um ein XR-Erlebnis erweitern. Auf der Business-Seite ist die Zusammenarbeit ein zentrales Thema. Hier gibt es mehrere Anwendungsfälle, die wir derzeit erforschen, beispielsweise zur Beschleunigung von Lernkurven, zur Unterstützung von Beratern im Außendienst oder zur Verbesserung kollaborativer virtueller Meetings mit gemeinsamen Whiteboards.
Um langfristig das beste Kundenerlebnis zu entwickeln, probieren Sie auch viele neue Dinge aus. Was sind Ihre Lieblingsanwendungen in XR jetzt und wie stellen Sie sich einen Tag im Jahr 2025 vor?
Terry: Momentan sind es einfache Apps, die mich antreiben. In VR auf jeden Fall: Pro Putt! - ein Mini-Golfspiel für zu Hause, und in MR würde ich sagen: Angry Birds. Ich habe das Spiel schon auf Smartphones geliebt. Ich bin ein großer Fan... und eine dritte Dimension hinzuzufügen ist sehr cool und macht viel Spaß.
Im Jahr 2025 erwarte ich einen Alltag, in dem ich meine Hände nicht mehr nutzen muss. Mein Kalender sowie wichtige Nachrichten werden direkt in meinem Blickfeld angezeigt. Ich würde die XR-Brille den ganzen Tag über benutzen. Daten werden mir ständig zur Verfügung gestellt, basierend auf meinen Gewohnheiten. Mittels Eye-Tracking werde ich Objekte auf unterschiedliche Weise sehen können – beispielsweise in anderen Farben.
Tiana: Nun, ich mag die Bewegung und Interaktion in 3D-Multiplayer-Erlebnissen sehr. Normalerweise basiert die gesamte Interaktion auf einer Tastatur, einem Joystick oder einer Maus, aber jetzt bin ich wirklich die Hauptfigur, und meine Bewegungen sind das Eingabegerät.
Im Jahr 2025 zeigt mir mein Kühlschrank virtuelle Gegenstände an, die mir fehlen und die ich per Knopfdruck nachbestellen kann. Nachrichten können mir permanent auf einem virtuellen Bildschirm neben dem Sofa angezeigt werden. Ich stelle mir vor, mit meinem persönlichen virtuellen Trainer joggen zu gehen. Ich würde solche virtuellen Personen oder Hologramme auch nutzen, um meine Freunde überall auf der Welt zu besuchen. Es wird wahrscheinlich nie so gut sein wie die Realität, aber die Kommunikation wird sich deutlich verbessern. Im Gegenzug werden reale Bildschirme langsam verschwinden.
Vielen Dank für diese offene Diskussion und viel Erfolg bei der weiteren Vermarktung von XR!