Langfristiger Erfolg ist zwar wünschenswert, birgt aber auch seine Gefahren. Besonders erfolgreiche Unternehmen zeigen die Tendenz, in der Kompetenzfalle zu landen und ungeachtet der sich verändernden Unternehmensumwelt an den alt bewährten Strukturen, Prozessen und Prinzipien festzuhalten. Die Notwendigkeit, sich an die neuen Marktbedingungen anzupassen und Kundenbedarfe neu zu verstehen, gerät dabei oft in den Hintergrund. Organisationale Ambidextrie versucht dieses Dilemma aufzulösen und das Beste aus beiden Welten zu fördern. Entscheidend ist die richtige Balance, also das Zusammenspiel beider Welten. Ein starkes und effizientes Kerngeschäft ist dabei genauso wichtig, wie die Entwicklung neuer Geschäftsfelder und innovativer Produkte. Eine solche Balance lässt sich nicht einfach über Nacht top-down implementieren. Ein tiefgreifender Wandel ist erforderlich.
Die Mächtigen geraten ins Wanken
Jahresumsätze von fast 20 Milliarden US-Dollar, Technologie-Pionier, Vorreiter im Bereich Marketing, Monopolstellung. Das Google jener Tage. Die Superlativen rankten sich nur so um den ehemals größten Produzenten von Kamerafilmen. Anfang der 90er Jahre sahen sich die Unternehmensverantwortlichen von Eastman Kodak am Zenit ihres Schaffens. Konkurrenten, wie zum Beispiel Fujifilm im 11.000 Kilometer entfernten Toyko, gab es keine, beziehungsweise wurden nicht ernst genommen. Zehn Jahre weiter stand Kodak auf einmal vor dem wirtschafltichen Kollaps und meldete 2012 Insolvenz an. Was war passiert?

Was ist aus dem so profitablen Filmgeschäft geworden? Durch den aufkommenden Megatrend der Digitalisierung hat sich der Markt für Kameras immer stärker Richtung Digitalfotografie entwickelt. Das Geschäftsmodell der analogen Fotografie - plötzlich ein Auslaufmodell. Eine Mentalität „perfekter Produkte“ und strenge Produktionsansätze greifen hier zu kurz. Das Paradoxe daran - Kodak erkennt zwar frühzeitig die Marktentwicklung und antwortet mit der ersten Digitalkamera, verpasst es aber dennoch, die Organisation - also die Struktur, die Prozesse, die Kultur und das Mindset entsprechend umzustellen. Kurzum: Kodak ist in der Kompetenzfalle gefangen. Das bewährte Geschäftsmodell, die so robusten Strukturen, das durchorganisierte Headquarter und die erprobten Kompetenzen, all das hat eine nahezu hypnotische Macht, auch auf die Geschäfsführer von Kodak. Exploitation um jeden Preis.

Abschöpfen heißt die Devise. Was fehlt, ist ein Gespür für die Bedeutung des Wandels und ein Bewusstsein dafür, dass dieser zwingend notwendig ist, auch und im Zweifel genau dann, wenn der Erfolg am stärksten ist. Allerdings sucht der Fluch des Erfolgs bei Weitem nicht nur Kodak heim. Von den Fortune 500, also den Mächtigen und Großen aus dem Jahr 2000, existieren heute nur noch knapp die Hälfte (richtig gelesen, knapp die Hälfte). Amazon, Google, Tesla und Netflix erschüttern die Business-Welt und bedrohen ganze Industrien. Doch was tun gegen diese Flut disruptiver Technologien und Geschäftsmodelle? Ist der nächste „Kodak-Fall“ vorprogrammiert?
Alles eine Frage der Balance
Problemlösungsansätze finden wir im Konzept der organisationalen Ambidextrie. Entlehnt aus der Medizin bedeutet Ambidextrie „Beidhändigkeit“ und meint damit Unternehmen, die in der Lage sind, einerseits vorhandene Ressourcen einzusetzen, um das Kerngeschäft zu maximieren und anderseits danach streben, neues Wissen und Kompetenzen zu generieren, um neue Technologien und innovative Geschäfstmodelle zu entwickeln. Das Geheimnis? Entscheidend ist die richtige Balance! Wie eine solche Balance zwischen Gegenwart und Zukunft aussehen kann, zeigt die beeindruckende Geschichte von Fujifilm.

Als Underdog gestartet und jahrelang im Schatten der atemberaubenden Verkaufszahlen von Kodak, ist Fujifilm gestärkt aus den radikalen Marktveränderungen hervorgegangen. Ihr Erfolgsrezept? Die Balance aus Exploitation und Exploration. Genau wie Kodak erkannte auch Fujifilm den sich dramatisch verändernden Markt frühzeitig. Der entscheidende Unterschied zwischen Kodak und Fujifilm liegt in den daraus abgeleiteten Implikationen. Fujifilm hielt zwar nach wie vor an ihrem bestehenden Geschäftsmodell fest, erkannte aber gleichzeitig die Notwendigkeit, in neue Technologien und Geschäftsbereiche zu investieren. Die Verantwortlichen von Fujifilm taten genau das, was die Entscheider bei Kodak versäumten. Sie hatten den Mut, ihr eigenes Geschäftsmodell in Frage zu stellen und den Blick gleichzeitig in die Zukunft zu werfen. Dabei waren drei Fragen elementar.
1.) Welche neuen Märkte können wir mit unseren aktuellen Fähigkeiten/Kompetenzen angehen?
2.) Können wir unsere Kernmärkte neu erschließen, wenn wir unsere Kompetenzen anpassen?
3.) Gibt es neue Märkte, in die wir mit unseren Fähigkeiten/Kompetenzen eintreten können?
Das dahinter stehende Mindset drückt das Zitat eines Fujifilm-Managers aus: „…while the print market shifted, and the film market continued to dissolve, we had to refine who we were, and how we were going to be successful as the market changed around us”. Verändert sich die Umwelt, muss sich zwangsläufig auch die Mission der Unternehmen verändern. Fujifilm hat den radikalen Wandel im Fotografie-Markt genutzt, um ihre Identität, die Art und Weise des Arbeitens neu zu defnieren und über die Fragen What und How neu nachzudenken. Die Unternehmensleitung hat erkannt, dass der Fokus auf Fotodrucke und low-end Digitalkameras auf lange Sicht wenig Profitabilität verspricht und die Zukunft des Unternehmens in der Produktion chemischer Produkte und damit im Healthcare-Bereich liegt. Fujifilm hat, im Gegensatz zu Kodak, die bestehenden Potenziale genutzt, um sich weiter zu diversifizieren und eine Balance zwischen Kerngeschäft und neuen Märkten herzustellen. Während Fujifilm mit Hilfe von Ambidextrie den Sprung ins digitale Zeitalter eindrucksvoll gemeistert hat, muss sich Kodak den Vorwurf gefallen lassen, zu spät beziehungweise nicht konsequent genug gehandelt zu haben. Die beiden Geschichten zeigen eindrucksvoll: bei Ambidextrie geht es um nichts weniger als um das blanke Überleben!
Was wir von Eastman Kodak und Fujifilm lernen können:
- Die Digitalisierung ist unerbittlich. Wer sich seiner Sache zu sicher ist und sich weigert, sein Geschäftsmodell in Frage zu stellen, läuft Gefahr, sich auf dem „Unternehmens-Friedhof“ wiederzufinden.
- Organisationale Ambidextrie – nicht „Entweder-oder“ sondern „Sowohl-als-auch“ heißt die Devise.
- Damit die Balance zwischen Exploitation und Exploration gelingt, ist ein entsprechendes Mindset unerlässlich. Gelebte Beidhändigkeit erfordert einen umfassenden Wandel im Unternehmen. Das Top Management muss dabei die Vorreitrolle einnehmen.