In der aktuellen Corona-Krise wird das Internet zum „place to be“ – hier wird gearbeitet, über Skype oder soziale Plattformen der Kontakt zu den Mitmenschen gehalten und über Netflix & Co. jede Menge Filme und Serien geschaut. Die Infrastruktur dafür stellen Telekommunikationsbetreiber – ihre Netze müssen der Belastung standhalten. Wir sprachen mit Dr. Peter Krüssel darüber, wie Betreiber in dieser Krise agieren und wagen einen Ausblick auf die Zeit nach Corona.
Dr. Krüssel, die Coronakrise setzt unsere Netze aktuell unter Stress. Sind diese standhaft genug, um die hohe Belastung zu tragen?
Es liegt auf der Hand, dass die Netze unter einer deutlich höheren Last stehen als vor der Krise. Die Zahl der Telefonate und der Daten, die über die Netze transportiert werden, ist stark gestiegen. Da sich durch die Ausgangssperre viele Menschen zu Hause aufhalten, ist die Belastung vor allem für das Festnetz gestiegen, während die Mobilfunknetze vielleicht ein wenig entlastet werden könnten. Der DE-CIX, der zentrale Internetknotenpunkt in Frankfurt, hat neue Rekorde bezüglich der transportierten Verkehrsmengen pro Tag gemeldet und verweist gleichzeitig darauf, dass es genügend Kapazitäten gibt. Insofern sehe ich in der aktuellen Situation keine großen Netzengpässe, weder in Deutschland noch in Europa oder in den USA. Unsere öffentlichen Instanzen ebenso wie die Carrier und die verschiedenen Dienstanbieter arbeiten daran, dass es keine Engpässe geben wird.
Welche Möglichkeiten kommen denn hierfür in Betracht?
In den USA hat beispielsweise die dortige Regulierungsbehörde FCC temporär Frequenzen im ländlichen Raum für den Mobilfunk verfügbar gemacht, damit entsprechende Kapazitäten bereitgestellt werden können. Streaming-Dienstanbieter wie Netflix oder Disney drosseln die Qualität der Videos von HD auf SD. In Deutschland erlaubt die Bundesnetzagentur (BNetzA) den Netzbetreibern, temporär unter Aufhebung der Netzneutralität, Verkehre im Netz zu priorisieren. Dies sind nur wenige Beispiele, die zeigen, dass die Telcos ausreichend Mittel zur Verfügung haben, um ein aktives Verkehrsmanagement zu betreiben.
Was versteht man unter einem aktiven Verkehrsmanagement?
Ein aktives Verkehrsmanagement bedeutet, dass Verkehre durch die Netzbetreiber zum Beispiel nach ihrer Kritikalität priorisiert werden können. Dies stellt sicher, dass die wirklich notwendigen Dienste auch weiterhin für bestimmte wichtige Zielgruppen funktionieren. Verkehre, die aktuell Priorität erfahren könnten, sind Dienste aller öffentlichen Institutionen, die in einer solchen Krise funktionieren müssen. Hier stehen zurzeit sicherlich das Gesundheitssystem und die Behörden mit Sicherheitsaufgaben an erster Stelle.
Eine Krise wirft die grundsätzliche Frage auf, ob die Betreiber für einen möglichen Notfall gerüstet sind. Was sind die entscheidende Dinge, die ein Betreiber auf jeden Fall umsetzen muss, um krisenfest zu sein?
Die Krise zeigt sehr deutlich, dass die Netzbetreiber über eine für die Gesellschaft und Wirtschaft kritische Infrastruktur verfügen. Funktionierende Kommunikationssysteme sind in solchen Zeiten immens wichtig. Die International Telecommunication Union (ITU) hat Vorschläge zum vorsorglichen Risikomanagement und Maßnahmenpläne für konkrete Krisen erstellt, die die Telcos in dieser schwierigen Zeit unterstützen.
In der aktuellen Krise stehen zunächst der Schutz der Mitarbeiter und die Stabilisierung des Geschäfts im Vordergrund. Um den Schutz der Mitarbeiter zu gewährleisten, muss eine sachorientierte Kommunikation zu den Gefährdungen und den notwendigen Maßnahmen stattfinden. Besonders die Menschen, die in geschäftskritischen Funktionen arbeiten und nicht von zuhause aus arbeiten können, müssen mit entsprechenden Schutzausstattungen und Handlungsanweisungen versorgt sein. Für diejenigen, die von zuhause aus arbeiten können, müssen die infrastrukturellen Voraussetzungen, bestehend aus Netz-, Systemzugängen, Hardware sowie Software, geschaffen werden. Mit Hilfe professioneller Collaboration Tools bleiben dann bestimmte Formen der Zusammenarbeit weiter virtuell bestehen. Das scheint auch gut zu funktionieren, wenn man sich die Performance der Netze und den Kundenservice der verschiedenen Netzbetreiber anschaut.
Wie sieht es mit der finanziellen Situation aus?
Die Telcos sind aufgrund ihres Geschäftsmodells von der akuten Krise sicherlich weniger stark betroffen als manch anderer, produzierender Industriezweig.
Nichtsdestotrotz sind die Auswirkungen auch hier deutlich zu spüren und sehr vielfältig. Sie reichen von Zahlungsausfällen nicht liquider oder insolventer Kunden, Umsatzrückgängen - beispielsweise im Bereich „International Roaming“ -, Einschränkungen in der Verfügbarkeit von Endgeräten oder steigenden Kosten in netznahen Vorleistungsbereichen über mögliche Zusatzumsätze in bestimmten Produktbereichen, die zum Beispiel virtuelles Arbeiten ermöglichen, oder Services, die volumenabhängig bepreist sind, bis hin zur Verschiebung von Frequenzauktionen – das sehen wir in Spanien und den USA -, Verzögerungen beim Netzausbau, dem Verbot von Preiserhöhungen bei den Endkundenprodukten während der Krise, zum Beispiel in Spanien und Großbritannien, oder auch Umsatzrückgängen bedingt durch das Schließen der stationären Vertriebskanäle. Eine besondere Betroffenheit ergibt sich aktuell beispielsweise in Großbritannien. Hier werden 5G Masten angezündet mit der Begründung, angeblich klare Beweise zu haben, dass die Pandemie durch den neuen Mobilfunkstandard beschleunigt wird.
Die mannigfaltigen Effekte müssen kurzfristig natürlich in Bezug auf ihre Einnahmen- und Ausgabenwirksamkeit analysiert werden. Insofern ist ein sorgfältiges Liquiditätsmanagement in dieser Situation wichtig. Geplante Investitionen und Projekte müssen in ihrer Priorität auf den Prüfstand.
Daneben tauchen aber sicherlich auch Fragen auf, wie man kritische Institutionen und wichtige Kunden oder Partner unterstützen kann in der Aufrechterhaltung ihres Geschäftsbetriebs. Dies kann zum Beispiel durch die kurzfristige Einräumung von Zahlungsaufschüben oder die Zurverfügungstellung von digitalen Produktlösungen und Netzkapazitäten erfolgen.
Was ist nach der akuten Krise zu tun?
Carrier werden sich nach der Krise damit beschäftigen, wie man ein Stück weit autarker werden kann. Die Digitalisierung auf allen Wertschöpfungsstufen vom Netz über die IT bis hin zum Vertrieb und Service wird stärker vorangetrieben. Vendoren-Strategien werden auf ihre Aktualität überprüft und in Bezug auf Lieferketten und mögliche Lieferengpässe hinterfragt. Dazu gehört auch das Überdenken bestehender Lagerhaltungsstrategien und die Entwicklung von Konzepten für eine Differenzierung hinsichtlich bestimmter Komponenten. Zusätzlich werden sich Carrier neuen Angeboten für ihre Kunden widmen, die über die reine Konnektivität hinausgehen. Hier sind Sicherheitslösungen, IoT, Smart City, e-learning und Kollaborationsplattformen zu nennen.
Nach der Krise wird man sicherlich auch den Ausbau der Breitbandversorgung, ob mobil oder fest, nochmals verstärkt angehen, um auch in zukünftigen Extremsituationen mit entsprechend ausgelegten und robusten Fest- und Mobilfunknetzen gewappnet zu sein. Die Netzbetreiber werden aufgefordert sein, zu investieren und notwendige Kooperationen einzugehen, um zum Beispiel landesweit möglichst schnell alle Mobilfunk-Whitespots zu schließen und mit ausreichenden Kapazitäten zu versorgen.
Ich vermute, dass der Staat weniger nachsichtig sein wird, wenn beispielsweise Auflagen aus bestimmten Frequenzversteigerungen nicht erfüllt werden. Gleichzeitig wird der Staat aber auch in der Pflicht sein, die dafür notwendigen Voraussetzungen in Form von Fördermitteln oder beschleunigten behördlichen Bau- und Standortgenehmigungsverfahren zu schaffen.
Wie wirkt sich die Krise auf die Wettbewerbssituation aus?
Die Karten im Wettbewerb werden neu verteilt und eröffnen Optionen für alle Wettbewerbsgruppierungen. Für die Netzbetreiber sehe ich unter dem Strich mehr Chancen als Risiken. Ihre Assets wie das Netz, das Vertrauen der Kunden in die Integrität, Zuverlässigkeit, Transparenz und Sicherheit der Angebote der Telcos lassen sich unter den zukünftigen Rahmenbedingungen sehr gut ausspielen.
Die großen Profiteure der Krise sind sicherlich die Internetgiganten. Hier gilt es auf regulatorischer Seite darauf zu achten, dass sie ihre ohnehin schon starke Marktmacht nicht überbordend ausbauen. Für die Telcos und viele andere Marktteilnehmer erhöht sich der Druck, die richtige Balance zwischen Wettbewerb und Kooperation mit diesen Playern zu finden.
Ist aktuell der richtige Zeitpunkt, politische Forderungen wie eine europäische Cloud auf den Tisch zu legen und durchzusetzen?
Grundsätzlich ja. Europa hängt in vielen Feldern der Digitalisierung den anderen beiden großen Wirtschaftsblöcken, China und den USA, deutlich hinterher. Statt primär Konsument zu sein, muss auch Europa anfangen, Produzent von digitalen Diensten, Plattformen und Lösungen zu werden. Denn die erfolgreiche Bewältigung der Chancen und Risiken der Digitalisierung entscheidet maßgeblich über den zukünftigen Wohlstand der Nationen und Generationen.
Allerdings bedarf es bereits jetzt staatlicher Unterstützung, um den Amerikanern und Chinesen in Bezug auf Know-how, globaler Präsenz, Marktanteile und Economies of Scale und Scope auf Augenhöhe zu begegnen. Die europäische Industriepolitik sollte mit einheitlichen regulatorischen Rahmenbedingungen allen Wettbewerbsakteuren ein sogenanntes „Level-Playing-Field“ anbieten, in dem jeder Akteur zu gleichen Konditionen und mit gleichen Chancen aufeinandertrifft. Die Politik und die Wirtschaft haben das Problem erkannt und es gibt verschiedene europäische Initiativen dazu. Zu nennen ist beispielsweise die europäische Datenstrategie von EU-Kommissar Thierry Breton, dessen Maßnahmen und Ziele diese Einsicht spiegeln. Weitere Beispiele sind die oben zitierte europäische Cloud, die Durchsetzung europäischer Datenschutzanforderungen durch die DSGVO oder die Überlegungen zu einer horizontalen Regulierung statt einer sektorspezifischen, vertikalen Regulierung einzelner Industrien. Ich bin zuversichtlich, dass wir in diesen Punkten weiter vorankommen.
Politik und Wirtschaft haben das Problem erkannt, es gibt verschiedene europäische Initiativen dazu. Zu nennen sind beispielsweise der Digital Service Act (DSA) und der Digital Markets Act (DMA), die beide Mitte Dezember 2020 von der EU vorgeschlagen wurden. In den Gesetzesvorschlägen soll für sogenannte „Gatekeeper“ der digitalen Wirtschaft, d. h. für besonders mächtige Plattform-Unternehmen, eine Ex-ante-Regulierung in Form eines Verbotskatalogs für bestimmte Verhaltensweisen eingeführt werden. Ferner sind neue Pflichten für digitale Diensteanbieter vorgesehen, die in ihrer Rolle als Bindeglied zwischen Verbrauchern und Waren, Dienstleistungen und Inhalten fungieren. Diese beiden Vorschläge lösen die ca. 20 Jahre alte e-Commerce Directive der EU ab und tragen den heutigen Realitäten in der Internet- und Plattformwirtschaft Rechnung.
Darüber hinaus ist auch die Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung (GWB) in Deutschland zu erwähnen, welches sich zum Ziel setzt, einen modernen digitalen Ordnungsrahmen zu schaffen. Große marktbeherrschende Digitalunternehmen sollen dadurch einer verschärften Missbrauchsaufsicht unterworfen werden. Weitere Beispiele sind das europäische Cloud-Projekt (GAIA-X) oder die Durchsetzung europäischer Datenschutzanforderungen durch die DSGVO.
Diese Initiativen sind in der aktuellen Covid 19 Krise von herausragender Bedeutung, weil sie die Internetgiganten adressieren, die als wesentliche Nutznießer der Krise gelten können und die in dieser Situation ihre in vielen Bereichen bereits dominierende Marktposition weiter zementieren können. Ich bin zuversichtlich, dass wir in diesen Punkten mit den genannten Initiativen weiter vorankommen.