Disaggregation: Neubewertung von Aufbau und Betrieb des Festnetzes

Die Herausforderungen für Betreiber von Festnetzen bleiben hoch. Auf der einen Seite müssen sie die Kosten senken, auf der anderen Seite müssen sie die Umsätze durch die schnelle und flexible Einführung neuer Dienste steigern. Dies erfordert eine Neubewertung der Art und Weise, wie Festnetze aufgebaut und betrieben werden - was zu einem neuen Ökosystem führt.

In den heutigen Zugangsnetzen finden wir Telco-Infrastruktur-Appliances im Central Office, die meist aus proprietärer Hardware mit einem eng integrierten Netzwerk-Software-Stack und proprietären Schnittstellen aufgebaut sind.

Über viele Jahre hinweg garantierte dieser Ansatz die Bereitstellung von Carrier-Grade-Diensten in Bezug auf Leistung, Qualität und Zuverlässigkeit. Die Netzbetreiber scheuten das Risiko, multifunktionale Hochleistungsgeräte zu spezifizieren und zu entwickeln. Daher engagierten sich die Telco-Anbieter weitgehend in Standardisierungsgremien, die die weltweit mehr oder weniger verbreiteten Service-Delivery-Schemata und allgemeine Protokolle definierten, was dazu führte, dass Black Boxes in dieses allgemeine Schema passten. Es wurde üblich, dass Netzbetreiber über Ausschreibungen einen oder zwei aus der kleinen Gruppe von Anbietern als langfristigen Anbieter für bestimmte Blackbox-Geräte auswählten.

Neben der Abhängigkeit über längere Zeiträume von herstellerspezifischen Lösungen und den damit verbundenen Kosten - oft als "Vendor Lock" bezeichnet - ist Innovation in einer solchen Multivendor-Umgebung eher schwierig, teuer und definitiv langsam, manchmal sogar unmöglich.

Die Telco-Welt hat sich jedoch dramatisch verändert. Innovationen und Verkehrswachstumszyklen erfordern eine kontinuierliche Aufrüstung der Zugangsnetze, um die neue Nachfrage von Endnutzern zu bewältigen, die loyal zu ihren Smartphones, Tablets und Apps sind, in den meisten Fällen ohne Umsatzsteigerungen.

Ein neuer Ansatz hilft bei der Bewältigung der Herausforderungen

Eine Gruppe von Betreibern hat sich zusammengesetzt und ihre Gedanken in der CORD-Vision kumuliert, die heute von der Allianz ONF (Open Network Foundation) unterstützt wird. CORD steht für "Central Office Re-architected as a Datacenter". Bestandteile dieses Ansatzes sind moderne Rechenzentrumstechnologie, zum Beispiel Commodity-Hardware, Methoden der Cloud-Architektur wie Microservices und SDN-Fähigkeiten, beispielsweise die Trennung von Daten- und Steuerungsebene.

In diesem Zusammenhang bezieht sich Disaggregation auf den Ansatz, die heutigen hochintegrierten Netzwerkelemente, die im Zugangsnetz eingesetzt werden, SW- und HW-mäßig zu zerlegen und die Funktionalität auf eine effektivere Weise zu verlagern. Mit anderen Worten: Die Disaggregation trennt die Software-Logik von der Hardware, die für ihre Ausführung zuständig ist. Dies wird auch als CUPS (Control-/User Plane Separation) bezeichnet und ist die ursprüngliche Intention von SDN.

Figure 1: Access disaggregation of integrated blackbox appliances

Grundlegende unternehmensstrategische Ziele für den neuen Ansatz beim Aufbau und der Orchestrierung von Zugangsnetzen nach CORD sind:

  • Senkung der Kosten (CAPEX und OPEX) durch Veränderung des Ökosystems
  • "Softwarisierung" des Netzwerks durch Priorisierung der Nutzung von Cloud, SDN und NFV
  • Die Elastizität des Rechenzentrumsansatzes und des Edge-Cloud-Computings für die Einführung neuer Dienste mit optimierter Time-to-Market nutzen

Durch Allianzarbeit können Netzbetreiber die Kontrolle zurückgewinnen

Es gibt weder einen allgemein gültigen, bereits gepflasterten Weg noch einen vollständigen Satz von Standardisierungsdokumenten. Ein Netzbetreiber hat daher seine individuelle Herangehensweise sorgfältig zu bestimmen. Ob, wie und wann die Umstellung auf das disaggregierte Zugangsnetz erfolgen soll, muss am Ende sorgfältig in Abhängigkeit von der spezifischen Situation des jeweiligen Netzbetreibers bewertet werden. Nichtsdestotrotz beibt die Idee bestehen, dass eine offene Community mit einem offenen Software-Ansatz es ermöglicht, von den Errungenschaften zu profitieren, die andere bereits gemacht haben.

Es entsteht eine neue Ebene der Zusammenarbeit und Kooperation zwischen Betreibern, die die gleiche grundlegende Vision teilen. Es handelt sich um eine viel tiefere Zusammenarbeit, die über die Definition von globalen Service-Delivery-Modellen und Verbindungspunkten hinausgeht, obwohl sie nicht völlig neu ist. Jeder Netzbetreiber hat die Möglichkeit, einen Beitrag zu leisten und diesen Ansatz zu verstärken, um endlich ein neues Ökosystem zu erreichen, von dem er profitieren kann, und nach neuen Partnern für Design und Implementierung zu suchen.

Die Referenzarchitektur ist einsatzbereit

Obwohl das Konzept von CORD, das bereits 2015 die Grundlage legte, auf alle Arten von Zugangsnetztechnologien wie xDSL, WTTH, PON, DOCSIS anwendbar ist, erhielt die Umsetzung in GPON-Netzen eine Art Priorität und wurde heute zum konzeptionellen Proof Point und ersten Build-Outs. Eine Referenzarchitektur für SEBA (SDN Enabled Broadband Access) V1.0 ist öffentlich verfügbar. Und die Deutsche Telekom ist mit Access 4.0 bereits live gegangen.

Wie die folgende Abbildung zeigt, werden die heutigen Blackbox-Geräte OLT und BNG durch ein Whitebox-Gerät ersetzt, welches sich um die GPON-spezifische MAC-Schicht kümmert, kombiniert mit einem kleinen Rechenzentrum, das aus gewöhnlichen Spine/Leaf-Switches und einigen Servern mit Rechenleistung und Speicherplatz besteht. Die Steuerung wird von der Benutzerebene getrennt und durch Virtualisierung gemäß dem SDN-Paradigma auf Server verlagert.

Figure 2: Access disaggregation principle (platform view) - Example for GPON

Der Baustein wird als CO POD - Central Office Point of Delivery - bezeichnet und übernimmt die Servicebereitstellung für die daran angeschlossenen Benutzer. Die Anzahl und Größe eines PODs kann je nach dem bereits bestehenden Netzwerk und den spezifischen strategischen Zielen des Betreibers variieren. Er kann sogar physisch aufgeteilt werden.

Wie bereits angedeutet, ist der Ansatz der Zugangsdisaggregation viel mehr als nur das Umschichten einiger Hardware- und Software-Elemente. Er betrifft das gesamte Ökosystem, die Rollen, die Anbieter und Betreiber heute spielen, sowie die Art und Weise, wie gearbeitet und geliefert wird. Die ersten Anbieter in diesem Segment haben die Dinge bereits in die Industrialisierung gebracht. Daher ist es für die Betreiber an der Zeit, sich zu entscheiden und diesen Zug nicht versehentlich zu verpassen.

Wichtige Erfolgsfaktoren für die Disaggregation des Festnetzzugangs

Obwohl ein verfügbares Referenzdesign sowie beispielhafte Instanziierungen durch Betreiber helfen können, den First Movern zu folgen, sollte eine solche Transformation sehr detailliert evaluiert werden, um alle Auswirkungen zu berücksichtigen. Jeder Festnetzbetreiber hat seinen eigenen Ausgangspunkt und einen eigenen Weg, um zu überlegen, wie er die Transformationsreise zum Umbau des Festnetzes beginnt und abschließt und dieses in einem neuen profitablen Ökosystem betreibt, ohne das laufende Geschäft zu gefährden.

Folgende Erfolgsfaktoren können für Netzbetreiber im neuen Ökosystem identifiziert werden:

  • Beteiligung an der Allianzarbeit durch eigene Beiträge, um den Marktfußabdruck dieses Ansatzes zu stärken
  • Prozesse an die offene Allianzarbeit anpassen, indem die Verantwortung und das Eigentum, die bisher in den Händen der Anbieter lagen, übernommen werden
  • Modularisieren Sie, was immer in einem tragfähigen Business Case möglich ist, um Flexibilität zu erreichen und das Ökosystem zu verbreitern
  • Aufhebung großer vertikaler Silos zugunsten einer agilen Organisation, die sich auf Standard-Hardware und softwaredefinierte Lösungen konzentriert

Dieses neue Ökosystem erzwingt auch Veränderungen innerhalb der etablierten Anbieterlandschaft.

Erfolgsfaktoren dafür sind:

  • Geben Sie die Zurückhaltung auf und erweitern Sie das Angebot durch modularisierte Lösungen ohne proprietäre Schnittstellen
  • Nutzen Sie die Wettbewerbsvorteile, schon lange am Markt zu sein und auf Erfahrung und Skalierung zu setzen
  • Brechen Sie die Organisation in kleinere Einheiten auf, um schnell und agil eigenständige Module zu liefern
  • Erweitern Sie das betreibereigene Angebot um Integrations- und Testunterstützung sowie Managed Services.

Referenzen:

1. SDN Enabled Broadband Access (SEBA) ; Reference Design ONF TS-100; Version 1.0 | March 2019 The Open Networking Foundation http://www.opennetworking.org

2. DT's Access 4.0 Team Loses Its Cherry & Hits the Eggnog; https://www.lightreading.com/automation/dts-access-40-team-loses-its-cherry-and-hits-the-eggnog/d/d-id/755017

3. Deutsche Telekom on its Access 4.0 next generation BNG partnerships; https://www.rtbrick.com/videos/deutsche-telekom-on-its-access-40-next-generation-bng-partnerships

4. Deutsche Telekom’s Access 4.0 transforms the network edge; http://www.gazettabyte.com/home/2020/2/24/deutsche-telekoms-access-40-transforms-the-network-edge.html