Data Sharing im Mobility-as-a-Service-Zeitalter

Daten als Lebensadern im komplexen Mobilitätsökosystem

Die Mobilitätsbranche befindet sich unumstritten im Umbruch. Im Sog der Digitalisierung und der Mobilitätsanforderungen der Zukunft gilt der Wandel der Industrie hin zu einer Sharing Economy heutzutage mehr als gesellschaftliche Notwendigkeit als ein potentielles Zukunftsszenario. Paradigmen wie Mobility-as-a-Service (MaaS) und Seamless Mobility prägen die Strategiesitzungen in so manchen Chefetagen. Welche Gestalt der ambitionierte Wandel der Branche annimmt, ist noch ungewiss. Vieles hängt unweigerlich mit dem Kollaborationswillen zahlreicher Akteure in diesem verflochtenen Ökosystem zusammen, die oft divergierende Ziele verfolgen. Für den Personenverkehr gehören dazu beispielsweise:

  • reisende Privatpersonen/ -gruppen,
  • konkurrierende Mobilitätsdienstleister,
  • Betreiber der (Telekommunikations-)Infrastruktur,
  • Anbieter von Mobility Plattformen und Apps,
  • Hersteller von Transportmitteln,
  • Datenlieferanten außerhalb der Mobilitätsbranche wie bspw. Kartendienste
  • öffentliche Institutionen wie Städte und Flughäfen, und
  • die staatliche Hand.

Kooperation wird selbstverständlich auch schon heute in der Mobilitätsbranche praktiziert. Speziell im öffentlichen Verkehr (öV) ist Co-opetition ein etabliertes Verhaltensmuster. Für ein wirklich effektives MaaS Ökosystem muss die Zusammenarbeit jedoch weiter ausgebaut werden – speziell bei der Integration von öV, Strassenverkehr und Micro-Mobility Services. Zum ganz konkreten Thema wird diese Kooperationsbereitschaft beim Austausch mobilitätsrelevanter Daten. Um dem anspruchsvollen Reisenden von heute nahtlose Tür-zu-Tür (TzT) Mobilität bieten zu können, müssen „backstage“ große Mengen an Informationen über klassische Organisationsgrenzen hinweg fließen. Dazu gehören zum Beispiel Daten über den Reisekunden selbst, die Verkehrsinfrastruktur, Mobility Hubs oder Transportmittel. Diese Datenflüsse stellen die Lebensadern eines funktionierenden MaaS Ökosystems dar (s. Abbildung).

„Ja“ zum Datenaustausch! Nur wie?

Dass Data Sharing für die Evolution des Mobilitätssystems wichtig ist, bestreiten die wenigsten. Doch es in der Realität praktikabel umzusetzen, stellt die Mobilitätsbranche vor eine massive, koordinative Herausforderung. Erfolgskritische Fragen müssen geklärt werden, damit „smart“ und „seamless“ überhaupt funktionieren kann. Wir haben uns mit unterschiedlichen Akteuren dieses vielfältigen Ökosystems darüber ausgetauscht – mit besonderem Fokus auf die DACH-Region und den Personenverkehr (siehe Info-Box zur Studie für eine Übersicht der Teilnehmer). Im Rahmen einer zweiteiligen Mini-Serie möchten wir einige der gewonnenen Erkenntnisse daraus vorstellen:

Teil 1: Welche MaaS Anwendungsfälle behandelt die Branche mit Priorität und welche Daten müssen dafür geteilt werden?

Teil 2: Wie offen soll der Datenaustausch sein und wie kann dieser mithilfe technischer, regulatorischer und vertraglicher Rahmenbedingungen gefördert werden?

Drei essentielle Anwendungsfälle für Data Sharing im Smart Mobility Zeitalter

Datenaustausch ist zweckorientiert. In diesem Punkt sind sich unsere interviewten Experten einig. Nur mit Hilfe eines klaren Verständnisses über von der Industrie gemeinsam verfolgte Ziele können Rückschlüsse auf die in einem MaaS Ökosystem zu teilenden Daten gezogen werden. Folglich beleuchten wir Prioritäten für Data Sharing aus der Perspektive dreier zentraler Anwendungsfälle, die gemäß der Interview-Teilnehmer zurzeit im Branchenfokus stehen.

1. Anwendungsfall: kombiniertes Routing für öV und Individualverkehr

Intermodale Mobilität ist nichts Neues. Schon heute wird der öffentliche Nah- und Fernverkehr erfolgreich von digitalen Reiseplanern zu integrierten Angeboten kombiniert. An ihre Grenzen stoßen diese Systeme jedoch bei der Schnittstelle vom öV zum Individualverkehr. Die smarte Verknüpfung von öV, Automobil und Micro-Mobility Services beschreibt einen TzT Reiseplaner mit „erweiterter Multimodalität“. Nach heutigen Schätzungen verbringt ein Auto durchschnittlich über 95% seiner Lebensdauer ungenutzt (Siehe bspw.: The Economist, The Long and Winding Road for Driverless Cars, 2017; Donald Shoup, The High Cost of Free Parking, Updated Edition, 2011). Einer der meistgenannten Gründe für das Interesse an einer nahtlosen Integration von öV und Individualverkehr war daher, den Verzicht auf ein Privatfahrzeug für einen größeren Teil der Bevölkerung zu einer validen Alternative zu machen. Dies ist besonders relevant für die DACH-Region, wo der öffentliche Massentransport nicht wegzudenken ist. Reine Carsharing-Angebote werden hier für die Bewältigung der zukünftigen Mobilitätsanforderungen nicht ausreichen. Weitere Vorteile, die man sieht, beziehen sich auf

  • einen besseren Umgang mit Störungsfällen durch Echtzeit-basierte Umverteilung von Verkehrsströmen auf alternative Transportmöglichkeiten, sowie
  • eine generelle Entlastung der Verkehrsinfrastruktur (ebenso durch Umverteilung).

"Smart Mobility soll situativeres Reisen ermöglichen" – Mobilitätsplattformbetreiber

Eine wichtige Abgrenzung: Die Rede hier ist von generischen Routing-Algorithmen ohne Einbezug individueller Präferenzprofile des Reisenden. Schon diese „Basisform“ der TzT Mobilität kann spürbaren Mehrwert bringen. Denn die wichtigsten Kriterien für einen zufriedenstellenden Routing-Vorschlag sind für die Meisten gleich und so simpel: Reisezeit und Preis. Gleichzeitig verstecken sich dahinter bereits genügend anspruchsvolle Herausforderungen in Bezug auf Konzeption und Umsetzung:

  • Wie werden äquivalente Reiseangebote in einem Ökosystem mit beliebig vielen Möglichkeiten priorisiert?
  • Wie gelingen Übergänge an Mobility Hubs möglichst naht- und schmerzlos?
  • Wie können multiple andere, eine Reise (unangenehm) beeinflussende Umweltfaktoren (z.B. Wetter, Event Massenauflauf) im Routing berücksichtigt werden?

Intensiveres Data Sharing für Echtzeitdaten, Mobility Hubs und Transportmittel

Viele wichtige Daten für TzT Routing sind bereits öffentlich zugänglich. Beispiele dafür sind Tarife für Mobilitätsdienstleistungen, Fahrpläne und Kartenmaterial. Drei Datenbereiche sind hingegen im Rahmen unserer Gespräche aufgekommen, bei denen Data Sharing noch ausbaufähig ist:

  • Verlässliche Echtzeitdaten über Reisende, Transportmittel und Parkmöglichkeiten: Die Rede ist hier beispielsweise von Geo-Lokalisierung eines Fahrzeugs (Car-/ Bike-Sharing, etc.). Ein Muss für eine sinnvolle Integration von fahrplanbasierten Dienstleistungen (wie Bus und Bahn) und On-Demand Mobilitätsangeboten im Individualverkehr. Einiges wird schon erhoben und genutzt, häufig aber nur innerhalb isolierter Mobilitätsdienstleistungen.
  • Layouts von Mobility Hubs: auch viele dieser Daten sind zwar bereits vorhanden, häufig jedoch nicht digitalisiert, strukturiert oder zentral abrufbar. Von spezieller Wichtigkeit in diesem Zusammenhang sind Informationen zu Parkmöglichkeiten im Umfeld dieser Hubs. Ein absoluter Grundpfeiler für den Übergang vom Individualverkehr zum öV. Fakt ist aber: heutzutage haben Städte häufig keine digitalisierten Verzeichnisse ihrer Parkplätze.
  • Stammdaten zu Transportmitteln: Um einer Reise(-gruppe) einen adäquaten fahrbaren Untersatz zuzuweisen, bedarf es Antworten auf Fragen wie: Was ist das Personen/Gepäck-Fassungsvermögen des Transportmittels? Bedarf letzteres eines Fahrscheins? Taugt es der Nutzung durch mobilitätseingeschränkte Menschen? Vielen dieser Daten sind vorhanden – ausserhalb von professionell betriebenen Flotten liegen sie aber wohl selten in strukturierter, digital verwertbarer Form vor (Ein spannendes Projekt in dieser Hinsicht ist das „Blockchain cardossier“. Dabei wird beabsichtigt, relevante Fahrzeug-Lifecycle-Daten mithilfe von Smart Contracts digital verfügbar zu machen.).

 

Studie: Smart Mobility – Datenstrategien in der Mobilität der Zukunft

Dieser Artikel ist Teil einer internationalen Detecon-Studie zum Thema Smart Mobility, die über 70 spannende Insights rund um Datenstrategien in der Mobilität der Zukunft enthüllt. In mehreren umfassenden Thesen werden diese veröffentlicht. Dazu führten wir über 20 qualitative Interviews mit Vertretern namhafter Unternehmen aus dem gesamten DACH-Raum: von Automobilhersteller und Logistik über Bahn- und Fernbusverkehr bis hin zu Mobilitätsservice- und Infrastrukturprovider. Zu den formulierten Thesen holten wir zusätzlich eine Marktmeinung von über 300 befragten Mobilitätsexperten ein.

Hier geht es zum Download des Diskussionspapier:
Smart Mobility – Daten und Data Sharing als Enabler für smarte Ökosysteme

2. Anwendungsfall: integriertes Vertriebssystem für die gesamte Mobilitätskette

Tür-zu-Tür-Routing ist hilfreich. Wenn ein Reisender aber nach Auswahl seiner gewünschten Route mehrere Apps für Buchungen verwenden muss, zahlreiche Rechnungen für genutzte Dienste erhält und sich nicht darauf verlassen kann, dass sein „Shared Car“ am Zielbahnhof auch tatsächlich verfügbar ist, ist der Convenience Gewinn überschaubar. Es benötigt daher einen One-Stop-Shop für Kauf, Reservation, Kontrolle und Abrechnung von intermodalen Mobilitätsleistungen, bspw. in Form von Smart Contracts. Abhängig von der technischen Umsetzung bedarf es dafür einer Menge an Datenaustausch zwischen Mobilitätsdienstleistern.

Data Sharing mit Samt-Handschuhen für Leistungs- und Kundendaten

In diesem Anwendungsfall sprechen wir von einem transaktionsbasierten Ökosystem. Der Kontext für Data Sharing ist daher fundamental anders als beim Routing, nicht aber weniger wichtig. Daten dürfen nicht einfach persistent und unidirektional veröffentlicht werden, wie dies beispielsweise mit Fahrplandaten praktiziert wird. Stattdessen geht es um bi- oder multilateralen Austausch leistungsrelevanter Daten zwischen involvierten Dienstleistern einer speziellen Reisekette. Nur so können Transaktionen erfolgreich abgewickelt werden.

Eine zentrale Herausforderung stellt hierbei der Umgang mit sensiblen Kundendaten dar. Wie viel müssen einzelne Mobilitätsdienstleister einer Reisekette über den Reisenden wissen, um diesen zu identifizieren, für die Nutzung ihrer Services zu autorisieren und Leistungen in Rechnung stellen? Der Teufel steckt auch hier im Detail.

3. Anwendungsfall: „Lernen aus der Menge“ mithilfe historischer Bewegungsdaten

Wie kommen Reisende von ihrer Stadtwohnung zu einem Bahnhof, und über welche Zugänge betreten sie diesen? An welchen Verkehrsknotenpunkten ergeben sich zu welchen Tageszeiten Engpässe, und wieso? Knifflige Fragen, die Bahnunternehmen und Städteplaner nach eigener Einschätzung heutzutage nur mangelhaft beantworten können. Mehr Insight wären für zahlreiche Zwecke hilfreich: die Optimierung von Mobilitätsservices, den gezielten Ausbau von Infrastruktur, die Identifikation von gefährlichen Nadelöhren oder die geschickte Platzierung von Shopping- und Verpflegungsmöglichkeiten.  

Entsprechend hoch ist das Interesse der Mobilitätsbranche an aggregierten historischen Bewegungsdaten. Eine wichtige Abgrenzung: Tracking und Aufbewahrung von Daten über das Mobilitätsverhalten von Einzelpersonen ist datenschutztechnisch heikel. Das klare Feedback aus den Interviews: aggregierte Daten reichen vollkommen aus, um das Mobilitätssystem und die angrenzende Infrastruktur faktenbasiert erheblich weiterzuentwickeln.

Tür-zu-Tür Mobilitätsflüsse mit Journey Tracker und Data Sharing erfassen

Bereits heutzutage werden viele Nutzungsdaten in der Mobilitätsbranche erfasst – häufig aber isoliert für spezifische Transportservices. Um Bewegungsdaten wertvoller zu machen, sollten diese das TzT Reiseverhalten widerspiegeln, inklusive der Fußwege. Es gibt mehrere Ansätze, die Qualität der vorhandenen Daten in diese Richtung zu steigern. Bereits heute sind beispielsweise Journey Tracking Apps für solche Zwecke im Einsatz. Ein Beispiel dafür ist „SBB DailyTracks“ von „MotionTag“. Eine Alternative ist die Integration der Nutzungsdaten von verschiedenen Mobilitätsanbietern durch einen praktikablen Data Sharing Ansatz.

„Richtig spannend für die Städteplanung wird es mit 24-Stunden-Bildern von Mobilitätsflüssen“ – Städtischer Mobilitätsdienstleister

Irrlicht personalisiertes Routing?

Routing Planung auf Basis persönlicher Präferenzprofile ist ein trendiger Anwendungsfall im Seamless Mobility Zeitalter. Für die meisten der interviewten Experten spielt dieser aber (zumindest bis auf weiteres) eine untergeordnete Rolle. Einerseits gibt es weitaus gravierendere Baustellen für ein effektives TzT Reiseerlebnis, wie oben beschrieben. Andererseits ist die Praktikabilität eines individualisierten Reiseplaners grundsätzlich in Frage zu stellen. Der Knackpunkt: Die Mobilitätsbedürfnisse für dieselbe Person sind häufig von Reise zu Reise sehr unterschiedlich. Dies beispielsweise in Abhängigkeit davon, ob man mit Gepäck unterwegs ist, einfach nur schnell ans Ziel kommen, Schlafen oder Arbeiten möchte. Ein Routing Planer müsste folglich neben statischen Präferenzen sämtliche weiteren Rahmenbedingungen für die nächste Reise kennen. Das wahrscheinlichste Ergebnis eines solchen Vorhabens: ein sehr umfangreicher Profiling Aufwand von Reisenden, eine massive Komplexitätserweiterung der Routing Algorithmen und ein ernüchternder Mehrwert für den Kunden.

Rudimentäre Formen könnten dennoch nützlich sein. Beispielsweise indem Mobilitätsangebote aufgrund von fixen, persönlichen Merkmalen  wie Mobilitätseinschränkungen oder dem Nicht-Vorhandensein eines Führerscheins gefiltert werden.

Fortsetzung folgt...

In diesem Teil unserer Mini-Serie haben wir einige zentrale Anwendungsfälle für Data Sharing im MaaS-Zeitalter vorgestellt und sind darauf eingegangen, welche Daten dafür geteilt werden müssen. Dies hilft einen groben Rahmen für die akuten Data Sharing-Bedürfnisse des Mobilitätssektors abzustecken. Ein wesentlicher Teil der Herausforderung für die Branche besteht aber darin, diesen Datenaustausch praktikabel umzusetzen und zu fördern. Im nächsten Teil präsentieren wir deshalb fünf praxisnahe Fragestellungen für die erfolgreiche Implementierung von Data Sharing in einem MaaS-Ökosystem. Zudem setzen wir uns näher damit auseinander, inwiefern gemeinsame Mobilitätsplattformen eine zentrale Rolle für diesen Datenaustausch übernehmen könnten.