Christian Kühnast, DB Cargo: Kommt ein Güterwagen in die Werkstatt oder die Intelligenz des Schadwagenmanagements

Reparatur vor Ort, vollständiger Ersatz oder Weiterfahrt in die Werkstatt – wie das „intelligente Schadwagenmanagement (iSWM)“ der DB Cargo die richtigen Entscheidungen im Güterverkehr auf der Schiene trifft. Ein Interview mit Christian Kühnast, Projektleiter iSWM, DB Cargo AG.

Hast auch Du früher als Kind die Wagen vorbeifahrender Güterzüge gezählt und daraus vielleicht sogar den Berufswunsch abgeleitet, Dich einmal professionell mit Güterwagen zu beschäftigen?

Güterwagen habe ich zwar nicht gezählt, als Kind hatte ich aber eine große Lego-Stadt mit Flughafen, Bahnhof und Hafen, somit konnte ich die Logistik- und Lieferketten simulieren. Das hat vielleicht indirekt zu meinem Berufswunsch beigetragen. Mich fasziniert die Bahn bis heute, obwohl ich nun schon seit 14 Jahren dabei bin. Im Laufe der Jahre hat sich im Bereich der Güterwagen ein großes Verbesserungspotenzial bemerkbar gemacht. Momentan bekommt die Bahn einen beträchtlichen Rückenwind aus Politik und Gesellschaft, sodass auch die Verkehrswende in Angriff genommen werden kann. Diverse Transporte werden zunehmend z. B. vom Lkw auf die Schiene geleitet. Das bedeutet im Umkehrschluss weniger CO2-Emmissionen und freiere Straßen im Personenverkehr.

Im „Masterplan Schienengüterverkehr“ der deutschen Bundesregierung wurde schon vor Jahren auf die Digitalisierung der Prozesskette in der Instandhaltung von Schienenfahrzeugen hingewiesen (Meilenstein 2.12). Was hat sich seitdem aus Deiner Sicht geändert?

In den letzten Jahren haben wir bei DB Cargo vieles standardisiert und digitalisiert. Der Masterplan war ein weiterer, wichtiger externer Impuls, unsere Digitalisierungsbemühungen im Konzern weiter zu beschleunigen. Die „link2rail“-Plattform digitalisiert beispielsweise Prozesse zwischen Kunden und der DB Cargo und das „Asset Automatisation and Digitalization“-Programm (AAD) dient dazu, interne betriebliche Prozesse zu optimieren – hier sind wir angesiedelt.

Im Projekt iSWM legen wir einen großen Wert auf eine gesamtheitliche Betrachtung der Prozessketten. Der End-to-End-Kontext von der Schadschreibung des Wagens bis hin zur Wiederinbetriebnahme nach dem Werkstattbesuch wird immer digitaler. Der Vorteil ist, dass es weniger Insellösungen gibt und die Steuerung über diverse Prozessketten hinweg gesamtheitlich optimiert werden kann. Komplexe Systeme und deren Wechselwirkungen lösen wir jetzt einfacher.

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Unser Angebot im Bereich der Digitalisierung des Bahnbetriebs präsentieren wir am 9. November 2022 auf dem Scandinavian Rail Optimisation Event in Stockholm.

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Tim Herbstrith, Manager

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Was genau ist ein Schadwagen und was waren die Gründe, Euch bei DB Cargo so intensiv mit dem Management von Schadwagen auseinanderzusetzen, war vorher denn etwas verbesserungswürdig?

Ein Schadwagen ist ein Güterwagen, der schadhaft ist – am Fahrzeug ist etwas kaputt und muss repariert werden. Je nachdem, wie schwerwiegend dieser Schaden ist, helfen mobile Teams dabei, den Wagen wieder lauffähig zu machen. Danach kann das Fahrzeug gefahrenlos zu einer Werkstatt fahren und wieder zum Einsatz kommen.

Der Ausgangspunkt für das Projekt „intelligentes Schadwagenmangement“ (iSMW) war, die Verfügbarkeit der Fahrzeugflotte für den Kunden zu erhöhen. Es galt, die damals noch sehr hohen Ausfallzeiten bei einem Schaden zu reduzieren. Nach der tiefgreifenden Analyse war uns klar: Die Auswahl der Werkstätten kann präziser und effizienter erfolgen. Die Herausforderung besteht darin, zu erfassen, welche Werkstätten für die jeweiligen Reparaturen und Wagentypen autorisiert sind, inwiefern Material vorrätig ist und wie die Kapazitäten der vor- und nachgelagerten Produktion (z. B. Rangierfahrten) sind. Heute gibt es im Vergleich zu früher viel mehr Variabilität – damals war die Prämisse: „Fahr in die möglichst nächste Werkstatt!“ Heute ist die zentrale Frage: „Welche Werkstatt ist die Richtige“? Das kann sowohl die Nächstgelegene als auch eine weit Entfernte sein.

Gerade die unerwarteten Störungen an einem Schienenfahrzeug bringen nicht nur finanzielle Risiken mit sich. Sie lösen auch einen hohen organisatorischen Aufwand zu deren Beseitigung aus. Mit welchen Technologien und Prozessveränderungen wirkt ihr solchen nicht planbaren Situationen entgegen?

Bei der Entwicklung eines IT-Systems zur Unterstützung des Schadwagenprozesses war uns von Anfang an klar, dass wir einen hohen Automatisierungsgrad und viele Daten benötigen. Die Vielzahl von 300-600 Schadfällen pro Tag erfordert eine effiziente Steuerung. Unter Berücksichtigung der außerplanmäßigen, spontanen Schäden sowie planmäßigen Instandhaltungen sollten die Werkstattkontakte reduziert werden, um wiederum eine hohe Verfügbarkeit zu generieren. Dies war eine größere Herausforderung im Team.

In Prozessworkshops haben wir zusammen mit den Fachabteilungen und Berater*innen der Detecon jeden einzelnen Schritt analysiert, angepasst und verbessert. Von der Schadschreibung über die Zurückführung in die Produktion bis hin zum erneuten Transport zum Kunden. Wie so oft ist das System immer nur so gut, wie es in der Praxis auch angewandt werden kann. Dafür müssten stetig Prozessketten angepasst oder aufgebaut und die Anwender mitgenommen werden.

Wie hat sich die Einführung des intelligenten Schadwagenmanagements auf die Verfügbarkeit der Güterwagenflotte bei DB Cargo ausgewirkt? Ist eine Steigerung der Verfügbarkeit im Vergleich zu vorher sichtbar, in welcher Höhe?

Erfreulich ist, dass seit dem Start des Projekts bis Ende 2020 rund 24 % der vermeidbaren Dispositionen in eine „falsche“ Werkstatt vermieden werden konnten. Für dieses Jahr erwarten wir eine Steigerung auf 30-33 %. Bei mehreren Tausend Dispositionen in die Werkstatt pro Jahr lohnt sich diese Einsparung enorm. Man muss wissen, dass jede falsche Disposition in die Werkstatt ungefähr zehn Ausfalltage zusätzlich verursacht. Das System stellt mit der gleichen Anzahl an Güterwagen nicht nur eine höhere Verfügbarkeitsrate und mehr Transporte her, es zahlt auch auf die Profitabilität und die Nachhaltigkeit des Ressourceneinsatzes ein.

Wenn die Komplexität der derzeit bestehenden Fahrzeugtypen beispielsweise auf den einheits- bzw. modularen Güterwagen reduziert wird, ist das iSWM-System dann überflüssig?

Wir werden nicht von heute auf morgen den modularen Güterwagen in allen Bereichen haben. Das nimmt sicherlich zu, aber auch Spezialwagen, z. B. den Autotransport, sind vorerst nicht wegzudenken. Deshalb ist unser Projekt definitiv nicht überflüssig. Durch eine Reduzierung ist es für das System vermutlich sogar einfacher. Wichtig ist, dass die Werkstätten solch einen modularen Wagen autorisiert reparieren dürfen. Unser Ziel wird dann wieder sein, durch das IT-System eine möglichst gleichmäßige Auslastung der Werkstätten anzustreben. Gewisse Prüfalgorithmen werden perspektivisch gegebenenfalls reduziert. Es bleibt auch für uns spannend, diese Entwicklung weiter mitgestalten zu können.

Wie geht es nun weiter im Schadwagenmanagement? Soll der Prozess um weitere Funktionalitäten und ggf. auch für Güterwagen externer Wagenhalter erweitert werden? Oder stehen schon andere, dem Schadwagenmanagement vorausgehende und nachlaufende Prozesse zur Digitalisierung an?

Der interne Nutzen und das Sammeln von Erfahrung stehen für uns an erster Stelle. Die Ablösung des alten Systems ist ebenfalls ein Projektauftrag gewesen. Wir möchten auch unsere iSWM-Community, die sich mit möglichen Erweiterungen auseinandergesetzt, in einen Regelbetrieb überführen. Weiterhin planen wir eine Vorstudie, die die Voraussetzungen untersucht, um das IT-System auch in den Landesgesellschaften der DB Cargo einzusetzen. Dritten das System verfügbar zu machen, ist derzeit auch nicht ausgeschlossen.

Wir möchten auch die Software weiterhin optimieren. Durch Machine Learning auf Basis unserer in einem internen Data Lake gesammelten Betriebs- und Stammdaten kann ein präventiver Werkstattbesuch künftig vorhergesagt werden. Damit wollen wir in Zukunft unplanmäßige Störungen vermeiden.

Sorgt das iSMW nicht auch für noch bessere Kundenorientierung?

Unsere Philosophie ist: Verfügbarkeiten verbessern. Das Spüren vor allem unsere Kunden. Wir sind das Steuerungsglied zwischen Kundenwunsch und Vertrieb für die Schadwagensteuerung und möchten durch höhere Transparenz einen Mehrwert für unsere Kunden schaffen.

Inwiefern ist erkennbar, dass die Veränderungen durch Einsatz von digitalen Technologien auch Veränderungen der Kultur hervorrufen?

Jede neue Prozessänderung stößt anfangs auf Herausforderungen. Auch wir konnten nicht nur Prozesse implementieren, sondern wollten auch die Kolleg*innen mitnehmen und befähigen. Dass uns das gelungen ist, liegt letztendlich auch daran, dass wir eine iSWM-Community gegründet haben, die im stetigen Austausch die wichtigen Weiterentwicklungen treibt und überprüft. Zusätzlich konnten wir von Anfang an sicherstellen, dass wir durch die Workshops alle wichtigen Beteiligten einbinden. Generell hatten wir das Glück, dass die Akzeptanz der Software mit der Zufriedenheit der Nutzer wächst. Das war ein großer Vorteil für uns.

Angenommen, es gäbe eine „gute Fee“ des Schadwagenmanagements und Du hättest drei Wünsche frei. Was würdest Du Dir von ihr wünschen?

Ich hätte eigentlich nur einen Wunsch: selbstheilende Güterwagen. Damit hätten wir das Ziel erreicht, dass die Verfügbarkeit von unseren Wagen jederzeit gewährleistet ist und wir unser System nicht mehr bräuchten.

Vielen Dank für das Interview!